Höhere Friedensaffinität durch stärkere Betroffenheit: Ungarn ist ein direkter Nachbar der Ukraine. Dies ist umso mehr ein Grund für ein klares Friedensbekenntnis der politischen Führung des Landes.

Das von Ministerpräsident Viktor Orbán geführte bürgerliche Lager wurde von den ungarischen Wählern vor gut einem Jahr mit einer vierten Zweidrittelmehrheit in Folge ausgestattet. Inzwischen regiert der populäre Ministerpräsident sein Land seit 13 Jahren ununterbrochen, insgesamt verfügt er über 17 Jahre Regierungserfahrung. Heute ist er der Dienstälteste im Europäischen Rat. Nicht nur seine Wirtschafts-, Familien- und Migrationspolitik kann sich sehen lassen, auch seine klare Positionierung im Ukrainekrieg spielte bei seiner Wiederwahl im April 2022 eine entscheidende Rolle.

Internationales Ungarnbild

Aus dem Blickfeld westeuropäischer Provenienz mutet das störrische Ungarn immer wieder verstörend an. Die eigensinnigen, eigenwilligen und freiheitsliebenden Menschen wählen sich zum wiederholten Male eine Regierung, die dem europäischen Mainstream wie ein Dorn im Auge erscheint. Weite Teile Europas können es nicht verstehen, wie eine dezidiert konservative Politik nicht nur erfolgreich, sondern auch populär und zukunftsgerichtet sein kann.

Das Land definiert seine Interessen selbst, besinnt sich auf seine Souveränität und seine Selbstbehauptung. Die Regierung handelt demgemäß auch in Übereinstimmung mit der Meinung einer großen Mehrheit der ungarischen Bevölkerung – dies gilt auch für die Positionierung im Ukrainekonflikt. Dabei sind die strategischen Interessen Ungarns und anderer europäischer Länder sehr ähnlich. Eine andere Frage ist natürlich, inwieweit dies international Beachtung findet.

Unmittelbare Betroffenheit

Ungarn ist als direktes Nachbarland der Ukraine direkt von den Folgen des Krieges betroffen. Die unmittelbare geographische Nähe sensibilisiert die Ungarn sehr, sie denken und fühlen mit, und erinnern sich noch sehr gut an die Zeit der Jugoslawienkriege. Damals hörte man in Südungarn den Geschützdonner – die südungarische Kleinstadt Barcs wurde sogar einmal von jugoslawischen Bombern angegriffen.

Wie man sich damals nicht in den Krieg hineinziehen ließ, so wird auch heute eine besonnene Politik verfolgt. Ungarn hat historisch viele Erfahrungen in den Konflikten zwischen Ost und West gesammelt und will sich möglichst aus jeglichen weiteren Erschütterungen heraushalten.

Doch nicht allen Ungarn gelingt dies. Bis jetzt starben bereits mehrere hundert Soldaten ungarischer Nationalität (aber ukrainischer Staatsbürgerschaft) als Angehörige der ukrainischen Streitkräfte im Krieg, nicht wenige waren zuvor zwangsrekrutiert worden. Davon weiß die europäische Öffentlichkeit jedoch kaum etwas.

Ebenso wenig ist dort bekannt, welchen wechselvollen und schwierigen Bedingungen die gut 150.000 starke ungarische Minderheit in der Ukraine ausgesetzt ist, angefangen vom – die ungarische Sprache zurückdrängenden – Sprach- und Unterrichtsgesetz bis hin zum Verbot, ungarische Fahnen zu hissen.

Verurteilung des Krieges

Trotz dieser Herausforderung für die ungarische Minderheit war klar, auf wessen Seite Ungarn in diesem bewaffneten Konflikt steht. Immer wieder wurde herausgestellt, dass die Probleme der autochthonen ungarischen Gemeinschaft zwar virulent seien, in diesen Kriegszeiten jedoch auch vom Mutterland hintangestellt werden müssten, da die Ukrainer derzeit viel Schlimmeres durchleben.

Bereits in den ersten Tagen des Krieges verurteilte die ungarische Regierung den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auf das Schärfste. Auch bekennt sich Ungarn bedingungslos zur Unabhängigkeit und zur territorialen Integrität der Ukraine und bekräftigt dies immer wieder. Ungarn unterstützt zudem die EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Bei ihren mehrfachen Besuchen in der Ukraine, auch in Kiew, betonte die ungarische Staatspräsidentin Katalin Novák demonstrativ die Unterstützung Ungarns für das angegriffene Land.

Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling

Ungarn ist das einzige Land in der Europäischen Union, das mit seinen Schengen-Außengrenzen gleich zweifachem Einwanderungsdruck ausgeliefert ist: Neben den Kriegsflüchtlingen aus dem Osten ist das Land auch dem Druck von illegalen Migranten aus dem Süden ausgesetzt. Umso mehr tut hier eine Unterscheidung not, wer tatsächlich hilfsbedürftig ist und ins Land und somit in die EU darf.

Während mehr als eine Million Ukrainer wärmstens empfangen wurden, gilt für die aus allen Teilen der Welt ankommenden illegalen Migranten an der ungarischen Staatsgrenze das rote Stoppschild. So langsam schwant auch der europäischen Öffentlichkeit, dass Kriegsflüchtlinge anders behandelt werden müssen als illegale Wirtschaftsmigranten. Letztere werden in den meisten Fällen von kriminellen Schleppern gegen hohe Zahlungen an die EU-Grenzen transportiert, ganz ähnlich wie die vom Lukaschenko-Regime an die weißrussisch-polnische Grenze gebrachten Migranten aus allen Teilen der Welt.

Erst hier wurde klar, dass der Schutz der EU-Außengrenzen unabdingbar ist und illegale Migranten aufzuhalten sind. Diese Erkenntnis setzte sich auf europäischer Ebene erst sehr spät durch, aber immerhin forderte die Europäische Volkspartei im Winter 2023 angesichts der weltweit einsetzenden Migrationsströme einen effektiven Schutz der EU-Außengrenzen.

Solidarität und Hilfe

Mit Beginn des Ukrainekrieges ging auch in Ungarn eine große Anteilnahme und Hilfsbereitschaft durch die Bevölkerung. Staatliche, kommunale und private Stellen halfen den aus der Ukraine kommenden Kriegsflüchtlingen. Mehr als eine Million Ukrainer kamen in Ungarn an, wurden registriert und versorgt. Freilich zog ein Großteil weiter gen Westen, doch viele sind geblieben.

Sie genießen eine Vorzugsbehandlung, können frei und kostenlos im Land reisen, erhalten Aufnahme und Verpflegung, können auch einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Die sie beschäftigenden Arbeitgeber erhalten zudem staatliche Beihilfen. Mehr als 1.000 ukrainische Studenten besuchen die ungarischen Universitäten, viele mit einem Stipendium. Dem Nachbarland werden zahlreiche Hilfsgüter geschickt, bis jetzt im Wert von rund 30 Millionen Euro. Auch ist wenig bekannt, dass Ungarn sich vertraglich verpflichtete, monatlich 35.000 Tonnen Diesel an sein Nachbarland zu liefern.

Als in den Diskussionen um die neue EU-Kreditaufnahme in Höhe von 18 Milliarden Euro für die Ukrainehilfe Ungarn dem Ansinnen der Kreditaufnahme nicht entsprach, wurde kolportiert, Ungarn würde sich gegen die Ukraine stellen. Das Gegenteil war der Fall: Das Land stellte seinen Anteil am Hilfspaket, 187 Millionen Euro, aus eigenen Haushaltsmitteln unmittelbar zur Verfügung. Auch hierüber schwieg sich die internationale Berichterstattung ostentativ aus. Später jedoch wurde das 18 Milliarden Paket übrigens auch von Ungarn beschlossen.

Rüstungspolitik

Einzig die strategische Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine beurteilt die ungarische Führung anders als die meisten Länder in Europa. In Ungarn ist man überzeugt, dass Waffenlieferungen den Krieg und damit das Leid der ukrainischen Bevölkerung nur verlängern. Dies bedeutet aber nicht, dass das Land die von seinen Bündnissystemen bereitgestellten Lieferungen nicht unterstützen würde.

Außerdem reagierte die ungarische Militärführung nicht wie viele andere Länder erst im Jahre 2022 auf den bewaffneten Konflikt, sondern bereits ab 2014. Nach der Annektierung der Krim war es den Ungarn klar, dass sie ihre strategische Verteidigungsbereitschaft erhöhen müssen. Dabei steht nicht nur die NATO-Verpflichtung von 2 Prozent des BIP im Mittelpunkt (dieses Ziel soll schon im nächsten Jahr erreicht werden), sondern auch die eigene Verteidigungsfähigkeit.

Das im Jahre 2016 begonnene „Zrínyi 2026 Programm“ (Später umbenannt in: Zrínyi-Programm für Verteidigung und militärische Entwicklung) zur Ertüchtigung der ungarischen Streitkräfte sieht Beschaffungen und Modernisierungen in bisher kaum bekannter Dimension vor. Seit 2016 wurden bislang rund 10 Milliarden Euro investiert. Im Mittelpunkt dieses Programms steht die Ansiedlung von entsprechenden Produktionsstätten in Ungarn, allen voran Rheinmetall und Airbus. Diese Investitionen werden von der ungarischen Regierung großzügig unterstützt.

EU-Sanktionen

Ungarn trägt alle Entscheidungen der NATO und der EU mit, ist aktiver Teil der Gemeinschaft und kommt seiner Bündnistreue nach. Ungarn handelt im Verbund seiner Partner – niemals wurde diese Loyalität ernsthaft in Frage gestellt. Auch bei den verschiedenen Sanktionspaketen der Europäischen Union stimmte Ministerpräsident Viktor Orbán immer wieder zu. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass er verschiedentlich seine „Dissenting Opinion“ klar zum Ausdruck brachte.

Seiner Meinung nach seien die Sanktionen primitiv und kaum durchdacht, würden kaum Erfolge zeitigen und am schlimmsten: Sie schaden nur den Europäern – mit hohen Teuerungsraten, explodierenden Energiepreisen und einer galoppierenden Inflation. An einer im Herbst 2022 eigens durchgeführten großangelegten Befragung der gesamten ungarischen Bevölkerung nahmen 1,4 Millionen Menschen teil. Sie bekundeten dabei eine Meinung, die sich mit jener der politischen Führung deckt: 97 Prozent waren der Auffassung, dass die Sanktionen nachteilige Wirkungen auf Ungarn entfalten.

Wirtschaftliche Folgen

In der Tat treffen Energieteuerung und Geldverfall vor allem die ärmeren Bevölkerungsgruppen, die gerade in Westeuropa nach Migrations- und Covidkrise schon wieder die Leidtragenden der Krisen der letzten Jahre sind und deren Lebensstandard vielerorts sinkt. In ganz Europa sind die unmittelbaren und mittelbaren Folgen des Krieges mit Händen zu fassen. Auch in Ungarn war die Rohstoffabhängigkeit von Russland bis zuletzt gewaltig, ohne russische Importe würde das Land vor ernsthaften Schwierigkeiten stehen.

Zwar ist Ungarn auf gutem Wege, erneuerbare Energien, vor allem Solarenergie, zu nutzen. Auch spielt Atomkraft im ungarischen Energiemix eine wichtige Rolle. Doch ein Loslösen vom russischen Gas kann vorerst keine Lösung sein.

Viele Ungarn spüren mit der hohen Inflation am eigenen Leibe, wie die Sanktionen gegen Russland ihre in den letzten Jahren mit Müh und Not aufgebaute wirtschaftliche Existenz gefährden. Sie wollen den Krieg also umso schneller beendet sehen und somit auch die verfehlte Sanktionspolitik. Je länger der Krieg dauert, desto mehr wird Europa zum Leidtragenden dieses Konflikts, so ihre Überzeugung.

Strategische Interessen

Bei Lichte betrachtet sind die strategischen Interessen Ungarns denen der meisten europäischen Länder vergleichbar und ähnlich, wenn nicht sogar ganz identisch. Es muss zwischen Russland und der NATO ein freies, neutrales und unabhängiges Land existieren, dass zugleich ein Puffer zwischen diesen beiden Lebenswelten ist.

Niemand in Europa fordert ernsthaft eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Auch ist allen Beteiligten klar, dass der Konflikt ein Konflikt zwischen zwei Nicht-NATO-Ländern ist. Ebenso ist es allen Verantwortlichen wichtig, dass sich die Europäer nicht in den Krieg hineinziehen lassen und nicht zur Kriegspartei werden. Eine andere Frage ist jedoch, inwieweit waffenliefernde Länder nicht de facto zur Kriegspartei werden könnten.

Zudem wollen sicherlich auch alle in Europa den Frieden in der Ukraine. Einzig die Frage, wie dieser erreicht werden kann, spaltet die Europäer. Während viele Länder darauf spekulieren, dass eine hochgerüstete und mit Waffen ausgestattete Ukraine letztlich Russland zurückschlagen, wenn nicht gar schlagen kann, sehen andere Länder, allen voran Ungarn, dies anders.

Die Überzeugung der politischen Führung Ungarns ist, dass es kaum möglich sei, eine Atommacht zu schlagen und eine weitere Eskalation des Konflikts Europa und die Welt in einen Abgrund stürzen würde. Aus diesem Grund appelliert man an die Kriegsparteien, möglichst rasch Waffenstillstandsverhandlungen aufzunehmen. Dies erfordert auch das strategische Interesse Europas, das anders als die Interessen globaler Weltmächte wie etwa die der Vereinigten Staaten von Amerika gelagert ist.

Diese Politik bedeutet keineswegs, Russland nicht als Aggressor zu identifizieren, doch müsse auch mit einem solchen verhandelt werden können. Daher möchte Ungarn den Frieden durch eine Verhandlungslösung befördern, hat sich immer wieder als neutralen Ort für Friedensverhandlungen ins Spiel gebracht und gewinnt international Tag für Tag mehr Befürworter. Menschenleben, Frieden und unser, uns allen wichtiger European Way of Life verdienen es, geschützt, behütet und bewahrt zu werden.

Zu den Unterstützern möglichst baldiger Friedensverhandlungen gehört neben Ungarn auch der Vatikan. Der Besuch des Pontifex maximus in Ungarn Ende April 2023 wertete die Friedenspolitik des ostmitteleuropäischen Landes auf. Dass Franziskus Ungarn nach relativ kurzer Zeit (er war zuletzt im Herbst 2021 in Ungarn) erneut besucht, unterstreicht den Stellenwert des Landes.

Fazit

Die strategischen Interessen Ungarns sind ähnlich der strategischen Interessen Europas. Wie alle anderen Europäer verurteilt Ungarn die russische Aggression, doch betont immer wieder, dass nur durch eine Verhandlungslösung ein Friedenszustand in der Ukraine erreicht werden könne. Je länger der Krieg dauert, desto schwächer werden die Europäer und desto stärker werden wiederum andere globale Mächte.

Einzig bei der Frage, ob nun Waffenlieferungen an die Ukraine den Krieg verkürzen oder verlängern, entzweien sich die Meinungen in Europa. In allen anderen Punkten stimmen die Ungarn mit den anderen Ländern Europas überein, werden aber trotzdem als Sonderlinge gesehen.

Dies liegt in der eigenwilligen, aber erfolgreichen liberal-konservativen Reformagenda des ungarischen Ministerpräsidenten begründet, der mutig und entschlossen die Interessen seines Landes vertritt. Damit können sich viele im linksliberalen Spektrum in Europa einfach nicht abfinden. Die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit in Europa geht also weiter.

 

Der Artikel erschien am 22 Juni erschien in der Budapester Zeitung.

 

BU (Waffen)

Leopard 2A4 des Panzerregiments „György Klapka“ in Tata – Ungarn reagierte nicht wie viele andere Länder erst im Jahre 2022 auf den bewaffneten Konflikt, sondern bereits ab 2014. Foto: MTI/Csaba Krizsán

BU (Papst)

Der Besuch von Papst Franziskus in Ungarn Ende April 2023 wertete die Friedenspolitik des ostmitteleuropäischen Landes auf. Foto: MTI/Tamás Kovács