Die EU-Kommission schlug Anfang Februar ihre Industriestrategie für den grünen Deal vor. Die Debatte dazu verspricht hitzig zu werden: Es geht um eine Leitentscheidung der europäischen Wirtschaftspolitik. Wie schaffen wir es, die Deindustrialisierung Europas in einem angespannten Umfeld zu vermeiden? Auf diese Frage muss die Politik nicht nur in Brüssel, sondern auch in den Mitgliedsstaaten eine Antwort finden. Im Folgenden werden die deutsche und die ungarische Politik miteinander verglichen. Welche industriepolitischen Positionen vertreten die beiden Staaten im europäischen Diskurs, und welche politischen Ursachen liegen diesen zugrunde?

 

„In der Krise beweist sich der Charakter“, pflegte der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt zu sagen. An Krisen mangelt es für Europas Industrie aktuell nicht: Nachdem die Corona-Pandemie für eine Störung der globalen Lieferketten gesorgt und die Rolle Chinas zur Frage gestellt hat, brach mit dem Krieg in der Ukraine die größte Krise der Energieversorgung seit den Ölkrisen herein. Steigende Energiepreise wären zwar nichts Unbekanntes, aber die allgemeine politische Unsicherheit stellt nun die Energiearchitektur Europas auf die Probe. Plötzlich ist Versorgungssicherheit nicht mehr eine Selbstverständlichkeit. Aber selbst aus der westlichen Welt kommen Impulse, die Europas Lage noch schwieriger gestalten. Mit dem Inflation Reduction Act haben die Vereinigten Staaten 360 Milliarden Dollar an Subventionen für dortige Industrie mobilisiert, obwohl diese von steigenden Energiepreisen weitgehend verschont geblieben ist. Europas Industrie könnte in die USA abwandern, so das Schreckensszenario. Diese Herausforderungen kommen nun zu einem Zeitpunkt, wo die EU seit längerem an mangelnder Dynamik leidet. Überbordende Regulatorik, mangelnde Investitionen in Forschung und Infrastruktur sowie Fachkräfteengpässe waren schon vorher Probleme im weltweiten Wettbewerb.

 

Der europäische Aufschlag

Die EU-Kommission hat diese Gefahren erkannt und veröffentlichte am 1. Februar den „Industrieplan zum Grünen Deal für das klimaneutrale Zeitalter“.  Hinter dem Titel verbirgt sich ein Reformprogramm, welches beinahe sämtliche Bereiche der Wirtschaftspolitik berührt. Der Kerngedanke des Plans ist es, mit Hilfe der Energiepolitik sowohl der europäischen Industrie einen Aufschub zu verleihen, als auch die Klimaziele zu erreichen sowie auch geänderten strategischen Lage Rechnung zu tragen. Als erstes Maßnahmenbündel schlägt die Kommission vor, die Regulatorik auf die Bedürfnisse der nachhaltigen Energiequellen zuzuschneiden. So sollte Forschung an Erneuerbaren durch Experimentierklauseln in EU-Rechtsnormen erleichtert, aber auch europäische Standards für „grüne“ Technologien (z. B. Batterien oder Solarpanele) eingeführt werden. Diese Technologien sollen zwar europaweit einheitlich, aber insgesamt weniger streng reguliert und schneller bewilligt werden. Eine ebenfalls wichtige Änderung der Regulatorik wird eine Reform des Strommarktes werden, die im März vorgestellt wird.

Das zweite Paket betrifft eine Neuordnung der öffentlichen Finanzen: Europas grüne Industrie sollte Zugang zu fast einer Billion Euro an öffentlichen Geldern erhalten. Um diese Summen in die Industrie pumpen zu können, sollen die Beihilferegeln massiv gelockert werden. Staatliche Hilfen an Unternehmen, die in klimafreundlichen Technologien unterwegs sind, sollen vereinfacht möglich sein. Öffentliche Ausschreibungen sollen einfacheren Vorschriften unterliegen, wenn es sich um grüne Beschaffungen handelt. Diese Gesamtheit dieser Erleichterungen nimmt einen Drittel des Plans ein, so dass sich die Frage nach der Finanzierung dieser Subventionen stellt. Teils werden nur vorherige Mittel umgewidmet, teils sollten neue Finanzierungsquellen erschlossen werden. So finanzieren die Mitgliedstaaten bereits klimafreundliche Projekte im Umfang von 250 Milliarden Euro aus dem Covid-Aufbaufonds, und nach dem Willen der Kommission setzen sie weitere 225 Milliarden an Krediten aus dem Fonds für diese Zwecke ein. Eher unklar ist, wie die Kommission weitere 375 Milliarden über die Europäische Investitionsbank finanzieren möchte. Zudem sollen 100 Milliarden aus dem Kohäsionsfonds für den grünen Deal umgewidmet werden.

 

Alter Wein in neuen, größeren, grüneren Schläuchen

Die Stoßrichtung des Plans ist klar: Industrien, die von der EU als grün eingestuft werden, sollen weniger Auflagen erfüllen müssen und schneller Geld vom Staat erhalten. Hier stellt sich die Frage: Nach welchen Kriterien ist die eine Industrie „grün“, die andere nicht? „Grün“ ist in Zukunft, was von EU-Institutionen als „grün“ in der Rechtsnorm definiert wird. Das ist ein politischer Verhandlungsprozess, welcher mit einem noch längeren bürokratischen Rattenschwanz daherkommt. Ebenfalls ist offensichtlich: Die EU will nicht nur ihre Verschuldung verstetigen, nachdem diese erstmal im Zuge der Corona-Pandemie „vorübergehend“ ermöglicht wurde, sondern auch die Feinsteuerung der Industriepolitik mit Hilfe des goldenen Zügels der EU-Gelder übernehmen. Insgesamt ist der grüne Deal eine Fortsetzung der bekannten Mechanismen der EU-Politik, die sich seit längerem auf dem Pfad hin zu der Feinsteuerung der Wirtschaft und einer Ausweitung der Verschuldung hinbewegt.

Der nächste Schritt auf diesem Pfad wurde von der Kommission bereits angekündigt. Der grüne Deal dient nur als Blaupause, über einen „Souveränitätsfonds“ sollten auch andere Technologien wie die IT oder Künstliche Intelligenz den Zugang zu Subventionen erhalten können.

 

Der grüne Traum wird wahr – und ein liberaler Albtraum

Deutschland ist das industrielle Herz Europas, und entsprechend bedeutsam sind die Folgen des grünen Industrieplans für sie. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klima – geführt von Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) – begrüßte den Plan umgehend. Ihm schlossen sich weitere grüne Politiker und Umwelt-NGOs an. Auffällig ist dagegen das Schweigen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). So äußerte sich der Kanzler im Vorfeld des EU-Sondergipfels am 9. Februar nicht zum Industrieplan. Innerhalb der Ampelkoalition wird damit eine Bruchstelle deutlich. Der Industrieplan ist weitgehend kompatibel mit den grünen Positionen zur Energiewende. Die größte Gefahr aus der grünen Sicht ist es nun, dass Atomkraft auf europäischer Ebene als grün eingestuft wird. So entbrannte sich zwischen dem Wirtschaftsministerium und der französischen Regierung ein Streit um eine Pipeline aus Spanien, da diese auch für französischen Wasserstoff hätte genutzt werden können – hergestellt mit Atomenergie. Die grüne Positionierung ist erklärbar mit der Verankerung der Grünen in der Umweltbewegung. Die Wahlentscheidung für die Grünen ist verbunden mit der Erwartung, dass diese sich für Klima und Umweltpolitik einsetzen. Ebenfalls ist die Ablehnung der Atomkraft Teil der grünen DNA. Dagegen spielen industriepolitische Überlegungen nur eine untergeordnete Rolle für die grüne Wählerschaft, die sich aus dem postmodern orientierten, wohlhabenden, und urbanisierten Milieu rekrutiert. Innerhalb dieser Milieus wird Wirtschaftswachstum skeptisch gesehen, und viele hegen Sympathien für Degrowth-Konzepte. Für die Kanzlerpartei SPD ist die Frage weniger eindeutig. Die Gewerkschaften sind einflussreich innerhalb der Sozialdemokratie, die sich als Arbeiterpartei definiert. Eine Deindustrialisierung gilt es für sie unbedingt zu vermeiden, zumal die AfD in diesen Milieus als Konkurrenz auftritt. Nicht zuletzt wird der grüne Deal die FDP auf die Probe stellen: Sie stellt sich wie keine andere in der Regierungskoalition gegen gemeinsame europäische Verschuldung, gegen überbordende Regulierung und für freie Märkte. Sollte sie sich mit diesen Anliegen nicht durchsetzen können, wäre das eine schwere Niederlage.

Die deutsche Position zum Industrieplan wird mit Sicherheit zum Streitthema in der Bundesregierung werden. Entscheidend könnte auch die Positionierung der deutschen Bundesländer sein, da diese auch die europapolitische Position Deutschlands in Europa beeinflussen können. Auf der Landesebene sitzen die Grünen am längeren Hebel: Sie sind in 12 von 16 Landesregierungen vertreten, die Liberalen in lediglich zwei. Über die Länderebene könnten auch CDU und CSU Einfluss ausüben, doch die Union ringt bis heute um eine klare Positionierung zu diesem Themenkomplex.

 

Der orange Industrieplan

Die ungarische Politik stellt sich dagegen institutionell weit einfacher da: Die Fidesz-KDNP-Koalition regiert mit Zweidrittelmehrheit. Die Herausforderungen für die Wirtschaft sind dagegen nicht weniger komplex. Ungarn ist stark abhängig von der Industrie, insbesondere der deutschen Automobilbranche. Die Regierung versucht hier die Rolle der deutschen Industrie mit Investitionen aus Fernost zu komplementieren. Sichtbare Zeichen sind die neuen Batteriefabriken in Iváncsa (SK Innovation) und Debrecen (CATL), die auch vom grünen Industrieplan profitieren könnten. In der Gesellschaft herrscht jedoch lagerübergreifender Konsens, dass das Ziel der Wirtschaftspolitik das Aufholen zum „Westen“ ist. Innerhalb Ungarns ist auch nicht zu vernachlässigen, dass die Industrie auf absehbare Zeit der einzige Wirtschaftssektor bleiben wird, dessen Erfolg dem starken Stadt-Land-Gefälle entgegenwirken kann. Es ist zu erwarten, dass die ungarische Regierung sich für die Aspekte des Plans verstärkt aussprechen wird, die das Wachstum der Industrie befördern sollen. So sprach sich in dieser Zeitung Wirtschaftsminister Márton Nagy am 10. Februar für eine Reindustrialisierung Ungarns aus. Die Priorität wird daher im Wettbewerb um EU-Gelder sein, die Sektoren zum Ziel des Plans zu machen, die in Ungarn stark vertreten sind. Ungarn hat sich beim Thema Atomkraft klar positioniert: Bereits am 1. Februar verfasste sie zusammen mit Frankreich, Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien, Slowakei, Slowenien und Kroatien einen Brief an die EU-Kommission, wo sich die Länder für einen grünen Status der Atomkraft aussprachen.

 

Eine neue Sollbruchstelle

Im Vergleich der deutschen und ungarischen Industriepolitik wird deutlich, dass sich nach einer langen Periode der wirtschaftlichen Konvergenz eine Bruchstelle auftut. Während es in der deutschen Politik mit den Grünen eine Kraft an entscheidender Stelle gibt, die den Plan strikt in Richtung der umweltpolitischen Ziele verschieben möchte, stellt sich aus der ungarischen Perspektive vielmehr die Frage, wie man aus dem Plan ökonomisch profitieren könnte. Wird sich nun die deutsche und die ungarische Wirtschaftspolitik perspektivisch auseinanderentwickeln? Sollten sich in Deutschland politische Kräfte durchsetzen – allen voran die Grünen – die Industriepolitik notfalls auch klimapolitischen Gesichtspunkten unterzuordnen bereit sind, wird Deutschland als Wirtschaftspartner für Ungarn immer unberechenbarer. Das könnte die Diversifikation Ungarns weg von der deutschen Industrie noch beschleunigen. Die deutsche Politik begäbe sich auf einen Sonderweg, welches die europäischen Partner zu entfremden droht. Wenn nicht wieder Realismus der Maßstab der deutschen Industriepolitik wird, sind die beiden ungarischen Batteriefabriken, errichtet mit Mitteln aus Fernost, nur die Vorboten eines größeren Wandels.