Das Spektrum der Vorstellungen, die sich mit dem Begriff der großen Transformation verbinden, ist breit, es reicht von der „Reform“ des Kapitalismus bis zu seiner Abschaffung. Bundeskanzlerin Angela Merkel warb 2020 in Davos für den großen Gesellschaftsumbau mit den Worten: „das sind natürlich Transformationen von gigantischem, historischem Ausmaß. Der Autor ist Von Klaus-Rüdiger Mai.
Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen – die ersten Schritte sind wir schon gegangen – und zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen.“ So sagte Luisa M. Neubauer der taz: „Menschen, die sich mit der Klimafrage beschäftigen, stellen irgendwann auch die kapitalistische Wirtschaftsweise infrage.“ Denn „die Klimakrise ist die Kumulation von multiplen Krisen auf der Welt... ist auch eine Krise, die von Männern verursacht wurde.“ Und im Gespräch mit dem ZDF Magazin aspekte bestand sie darauf, „Wirtschaftssysteme zu erdenken.“ Auf dem jüngsten Parteitag der Grünen beendet Annalena Baerbock ihre Rede mit den Worten: „Eine Ära geht zu Ende, und wir haben die Chance, eine neue zu begründen. Jetzt ist der Moment, unser Land zu erneuern, und alles ist drin“ Doch auch der Gründer des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, schwebt nicht weniger als Annalena Barbock eine „gerechte Gesellschaftsordnung“ vor. Er nennt die Große Transformation einfach Great Reset: „Der Great Reset wird von uns verlangen, alle Stakeholder der globalen Gesellschaft in eine Gemeinschaft mit gemeinsamen Interessen, Zielen und Handlungen zu integrieren.“ „Zu den Stakeholdern zählen“, „nicht nur die Mitarbeiter eines Unternehmens, sondern auch die Kunden und Lieferanten. ... Die gesellschaftlichen Aufgaben der Unternehmen rücken also beim Stakeholder-Ansatz in den Vordergrund, während beim Shareholder-Ansatz das Maximum für die Aktionäre als Schwerpunkt gilt.“ An dieser Stelle wird Eigentum gegen Gemeinwohl, Verantwortung gegen Eigentum gestellt. Auch hier geht es um die ganz große Veränderung, darum, die Gesellschaft völlig umzubauen. Klaus Schwab fährt fort: „Wir brauchen ... den Übergang vom Aktionärskapitalismus zur Verantwortung der Stakeholder. Ökologische, soziale und Good Governance müssen ein angemessener Teil der Rechenschaftspflicht von Unternehmen und Regierungen darstellen.“ Die Rechenschaftspflicht der Unternehmen auszuweiten, ist nichts anderes als Bürokratieausbau – und als solcher ein Wettbewerbsnachteil für kleine und mittlere Betriebe, die nicht über große Verwaltungseinheiten verfügen, um immer absurderen Rechenschaftspflichten nachzukommen. Rechenschaftspflichten erzeugen keinen Wohlstand, sondern immer neue Rechenschaftspflichten. Es wäre der Übergang von der Ökonomie zur Bürokratie.
Das Konzept der Großen Transformation stammt von dem Wirtschaftswissenschaftler Karl Polanyi, das er in dem 1944 publizierten Buch „The Great Transformation“ entwickelt hat. Bis in die achtziger Jahre hinein fristete diese Theorie eine bescheidene Existenz auf dem Hinterhof der Unentwegten der antikapitalistischen Linken. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989 und dem Sieg des liberalen Projekts schien sie, vollständig obsolet zu sein. Doch seit den 2000er Jahren steigt sie wie Phönix aus der Asche und wird zum Gedanken-und Stichwortgeber für so heterogene Kräfte wie die Linke, die Linksliberalen, die progressiven Neoliberalen, also von Luisa Neubauer über Robert Habeck bis Angela Merkel und Klaus Schwab.
Polanyis Grundidee besteht darin, dass durch die Einhegung im ausgehenden 15. Jahrhundert in England ein Prozess in Gang gekommen ist, der die Güter: Arbeit, Geld und Boden zu Waren, genauer zu fiktiven Waren gemacht habe. Man nennt die Phase Frühkapitalismus. Doch weder die Arbeit, noch der Boden werden hergestellt und weil sie erstens nicht hergestellt werden, können sie keine Waren sein, und zweitens kann man sie, da sie nicht hergestellt worden sind, gerecht bepreisen. Der Mensch, der in der Ware Arbeitskraft verdinglicht wird, wird entfremdet, alles, was ihn ausmacht, spielt keine Rolle. Das Motiv des Lebensunterhalts wird durch das Motiv des Gewinnstrebens ersetzt. Die große Transformation besteht für Karl Polanyi in dem Prozess, in dem die Politik ihr Primat gegenüber der Wirtschaft verliert und zum Anhängsels der Wirtschaft wird, vielleicht sogar zum Reparaturkosten der Kollateralschäden der sich selbstregulierenden Märkte. Für ihn ist der selbstregulierte Markt eine Utopie. Er beschreibt eine Doppelbewegung, die darin besteht, dass immer dann, wenn der Markt sich durchgesetzt hat, die gesellschaftliche Katastrophe nur dadurch vermieden wurde, dass Regierungen oder starke gesellschaftliche Gruppen zugunsten der Arbeitnehmer eingegriffen und Sozialgesetze erlassen haben. Deshalb fordert er, den Faktor Arbeit aus dem Markt herauszunehmen und ein Recht auf Arbeit gesetzlich zu verankern. „Nicht nur die Arbeitsbedingungen in den Fabriken, die Arbeitszeit und die Vertragsbedingungen, sondern der Grundlohn werden außerhalb des Marktes festgesetzt.“ Auch den Faktor Geld, auch den Faktor Boden schlägt er vor, aus dem Markt zu nehmen, das sei gleichbedeutend „mit der Einverleibung des Bodens in bestimmte Institutionen wie Hauswirtschaft, Kooperative, Fabrik, Gemeinde, Schule, Kirche, Park, Wildschutzgebiet usw.“ Auch die Preise für Grundnahrungsmittel und organische Rohstoffe sollen außerhalb des Marktes, also von Politikern festgesetzt werden.
An die Stelle des Eigentums tritt bei Polanyi die Gerechtigkeit, dadurch aber wird die Freiheit unfrei. Doch das kümmert Polanyi nicht, denn er will keine Freiheit auf Kosten der Gerechtigkeit zulassen. „Das ergebene Ertragen der gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt dem Menschen den unbezwinglichen Mut und die Kraft, alle Ungerechtigkeit und Unfreiheit, die sich beseitigen lassen, zu beseitigen. Solange er sich seiner Aufgabe, mehr Freiheit für alle zu schaffen, widmet, braucht er nicht zu befürchten, dass sich Macht oder Planung gegen ihn wenden und die Freiheit, die er mittels ihrer erreicht, zerstören werden.“ Solange der Mensch die Aufgaben löst, die ihm von „Macht oder Planung“ zugeteilt werden, hat er von der „Macht oder Planung“ nicht zu befürchten. Ein Ursache für diese totalitäre Tautologie steckt im grundsätzlichen Verkennen der Freiheit, wenn Polanyi von der „Aufgabe, mehr Freiheit für alle zu schaffen“, spricht, denn die Freiheit kann nicht für alle geschaffen, sondern nur jedem garantiert werden, da sie ein Individualrecht ist und auf der Existenz des Individuum gründet. Eine Gesellschaft wird nicht deshalb frei genannt, weil sie frei ist, sondern weil ihre Mitglieder frei sind – und zwar jeder für sich.
Bestand die Große Transformation also darin, die Gesellschaft der Wirtschaft zu unterwerfen, besteht die neue Große Transformation darin, den Primat der Gesellschaft über die Wirtschaft herzustellen, also den feien Markt abzuschaffen und Gerechtigkeit an die Stelle der Freiheit zu setzen. Das ist exakt, was die Grünen in ihrem neuen Wahlprogramm vorschlagen: Die öffentliche Hand, der Staat, soll vorgeben, wo auch Bürger und Unternehmen zu investieren haben. Die freie Marktwirtschaft sei wichtig, aber nur wenn der Staat dafür sorgt, dass, wie Robert Habeck auf dem Parteitag sagte, „die großen Kräfte der Märkte, der Marktwirtschaft in die richtige Richtung laufen.“ Im Grunde zitiert Habeck hier nur Stalin: Wenn die Richtung klar ist, entscheiden die Kader alles. Unternehmer, denen die Richtung gewiesen wird, sind dann nur noch Kader einer Gemeinwohlwirtschaft. Um das zu verwirklichen, so Habeck weiter, „bauen wir von der Mission aus, vom Ziel her aus eine klimaneutrale Gesellschaft. Wir brauchen dafür die freien Märkte, das freie Unternehmertum, aber es muss eine Richtung bekommen, es muss sich dem gesellschaftlichen Ziel anschließen ...“ Von der Mission her Gesellschaft in der Art von Sozialalchemisten zu gestalten, ist nicht anderes, als der historisch bekannte Versuch, eine Utopie umzusetzen, die in der Verwirklichung zur Dystopie wird.
In der Nachfolge von Karl Polanyi gehen die Verfechter der Großen Transformation vom Axiom der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus aus. Die Vorstellung, dass der Kapitalismus seine Krisen nur überwindet, indem er Voraussetzungen für die nächste Krise schafft, stellt das Ur-Dogma marxistischer Krisentheorie dar. Doch die Behauptung, dass der Kapitalismus beständig Krisen produziert, impliziert die Frage, ob eine krisenfreie Gesellschaft jemals existiert hat oder ob sie grundsätzlich und konkret zu denken und zu verwirklichen ist. Lässt sich ein innerweltliches Paradies errichten? Wenn bisher keine menschliche Gesellschaft existierte, die nicht Krisen produzierte, dann stellt die Krisenproduktion des Kapitalismus keine Besonderheit dieser Gesellschaftsform dar, sondern ist eine anthropologische Konstante aller menschlichen Gesellschaften. Das aber würfe die Frage auf, in welchen Gesellschaften das „Krisenmanagement“ produktiv und in welchen es destruktiv ist.
Die Theorie der Großen Transformation bricht in sich zusammen, wenn ihr das Krisenargument genommen wird. Die Marxistin Nancy Fraser bringt das mit der Formulierung auf den Punkt, „dass wir in den Wehen einer epochalen Krise des Kapitalismus leben, weshalb wir heute das dringende Bedürfnis nach einer Rekonstruktion von Krisentheorien haben.“ Stellen wir Frasers Satz vom Kopf auf die Füße, dann wird deutlich, worum es geht, dass in Wahrheit die Rekonstruktion von Krisentheorien benötigt wird, um eine „epochale Krise des Kapitalismus“ zu behaupten. Die propagierte Vorstellung der Krankheit gibt die Krankheit, nicht die Krankheit selbst. Wir leiden nicht an dem, was ist, sondern an dem, was uns gesagt wird, was sein soll. Krisen jedoch werden von ungelösten Verteilungskonflikten und Interessenkonflikten getrieben. Gesellschaften lösen ihre Verteilungskonflikte gewöhnlich durch Ausweitung, durch Fortschritt, durch Wachstum. Eine Gesellschaft, die wie Oskar Matzerath das Wachstum einstellt, wird ihre Verteilungskonflikte nicht mehr lösen können. Jetzt erst gerät eine Gesellschaft wirklich in die Krise, aber diese Krise ist nicht ökonomisch, sondern politisch verursacht, sie hat im Gegensatz zu Polanyis Thesen nichts mit der Freiheit des Marktes, aber alles mit der Unfreiheit des Marktes zu tun, mit der Richtung, die Politiker – auch durch das Mittel der Subventionen – dem Markt vorgeben.
Joseph Schumpeter hat das Wesen der Krise im Kapitalismus erfasst, wenn er vom Prinzip der kreativen Zerstörung spricht. Krisen zerstören Hemmendes, Unproduktives und ebnen so dem Neuen, dem Produktiven den Weg. So gesehen bilden die Krisen die Norm jeder Gesellschaft. Haben wir es mit einem dynamischen System wie dem Kapitalismus zu tun, folgt eine Weiterentwicklung, ein statisches System wie der Sozialismus wird von Krisen zerstört. Der Unterschied besteht, wofür Polanyi vollkommen blind ist, in der Freiheit des Marktes.
Das Primat der Politik über die Wirtschaft, über den Markt, führt dazu, dass die Politik selbst wirtschaftliche Probleme, Krisen produziert, die politisch nicht gelöst werden können, deren wirtschaftliche Lösung aber gleichzeitig verhindert ist, weil der gebundene Markt nicht die kreativen Kräfte freisetzen kann, die im Rahmen der kreativen Zerstörung notwendig sind, um das notwendig Neue zu schaffen. Die Durchsetzung des Primats der Politik über die Wirtschaft führt dazu, dass Politik zum Gefangenen einer nicht funktionierenden Wirtschaft wird, über die sie doch eigentlich herrschen will.
Marxisten und Linksliberale verstehen das Prinzip des kreativen Zerstörung nicht, weil sie dem Markt und letztlich dem Menschen misstrauen, weil sie ein religiöses Bedürfnis, ein innerweltliches Erlösungsstreben antreibt.
Da spätestens mit dem Zusammenbruch des Kommunismus das Versprechen vom Himmel auf Erden die Überzeugungskraft einbüßte, ersetzt man in neuerer Zeit die Verheißung durch die apokalyptische Drohung. Wenn man die Menschen nicht mit einem Ziel, das eintreten soll, überzeugen kann, dann hilft die Drohung mit dem Weltuntergang, der eintritt, wenn man sich nicht so oder so verhält. Reinhard Koselleck nennt diese politisch-verursachte oder behauptete Krise, die nichts mit dem Kapitalismus zu tun hat, die Krise als Letztentscheidung: „Dass die Krise, in der man sich jeweils befinde, die letzte große und einmalige Entscheidung sei, nach der die Geschichte in Zukunft ganz anders aussehen werde – diese semantische Option wird immer häufiger ergriffen, je weniger an das Ende der Geschichte durch ein Jüngstes Gericht geglaubt wird.“ Das Jüngste Gericht wird also durch die Krise ersetzt, das Religiöse in der Vorstellung der Krise säkularisiert und das Paradies in Gestalt der klimaneutralen Gesellschaft vom Himmel auf die Erde geholt. Die Krise wird so zum Religionsersatz und zum Phänomen des Transzendenzverlustes, die Große Transformation zum Weg in die klimaneutrale Gesellschaft, in das ökosozialistische Paradies, in dem keine Krisen auftreten, weil nach vernünftigen Kriterien geklärt wird, wie die „demokratische Kontrolle des gesellschaftlichen Überschusses“ ausgeübt wird, in der wir „an Entscheidungen darüber beteiligt sind, was wir produzieren und wo wir den gesellschaftlichen Überschuss investieren“, wie die Philosophien Rahel Jaeggi postuliert.
Historisch hingegen bleibt festzuhalten, dass der Kapitalismus einen enormen Menschheitsfortschritt auch in sozialer Hinsicht gebracht hat, wenn wir den Vergleich der jeweiligen Etappe mit der vorausgehenden vornehmen und nicht anachronistisch unsere Maßstäbe an Vergangenes anlegen oder vom Standpunkt der Utopie ausgehen.
Der Kapitalismus funktioniert, was man von den Menschheitsbeglückungsideen nicht sagen kann.