Während in Zeiten des Krieges die meisten westlichen Staaten ihre Bindungen zu Russland und China kappen, setzt Ungarn bewusst auf die Pflege bestehender Beziehungen. Dahinter steht eine Strategie, von der auch Europa profitieren kann.

Die verschiedenen Krisen der letzten anderthalb Jahrzehnte haben Europa global nicht gestärkt, ganz im Gegenteil. Spätestens mit der Migrations-, Covid- und Energiekrise mussten die Europäer erkennen, dass es nicht immer aufwärts geht. Viele andere globale Akteure gewinnen zusehends an Bedeutung: in Wirtschaft, Energie, Innovation sowie bei der Gewinnung neuer Rohstoffe und im Wachstum der Bevölkerung. Nicht zuletzt beschädigte der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine vor allem die europäische Wirtschaft – und damit auch das Selbstbewusstsein und die Souveränität der Europäer.

Eine neue Blockbildung und ihre Risiken für Europa

Die EU reagierte auf den Krieg mit einer verstärkten Abkapselung von Russland. Diese fügt sich ein in eine schon seit Jahren zu beobachtende Tendenz der Herausbildung neuer rivalisierender globaler Machtblöcke. Im Westen wird im Zuge dieses Krieges über die Notwendigkeit eines weltweiten „Decoupling“ diskutiert, das heißt eines steten Abbaus von bestehenden Wirtschaftsbeziehungen mit nicht freundlich gesinnten Ländern. Bei China soll dieses „Decoupling“ ein „Derisking“ sein, was aber in der Tendenz auch den Abbau bestehender Handelsbeziehungen bedeutet. Die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland wurden binnen kürzester Zeit fast vollständig gekappt.

Durch diese selbst beschlossenen Beschränkungen des globalen Freihandels besteht jedoch die Gefahr, dass der Westen die Grundlagen seiner eigenen Erfolgsgeschichte – nämlich der Globalisierung – in Frage stellt. Die Konzeptionen „Derisking“ und „Decoupling“ verstärken diese Blockbildung, in der die zur westlichen politischen Hemisphäre gehörenden Staaten die Führung der Vereinigten Staaten von Amerika in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht anerkennen – aber auch nur diese und viele andere eben nicht.

Dieses Szenario beinhaltet auch, dass die westliche Staatengemeinschaft schrittweise die Verbindungen mit China reduziert, Sanktionsregime etabliert, während der militärische Integrationsprozess innerhalb des westlichen Blocks verstärkt wird. Eine politische Blockbildung kann global Verbündete der USA von diesen entfremden, wenn auf ideologische Weise Gefolgschaft verlangt wird. Die vielen bisherigen nichtdemokratischen Verbündeten der Vereinigten Staaten könnten sich von diesen abwenden, wenn weltanschaulich ein starker politisch-ideologischer Druck ausgeübt wird. Der Westen befindet sich „zwischen Anmaßung und Selbsthass“, so die Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, Susanne Schröter.

Folgen des Ukrainekriegs

Die europäischen Forderungen nach einer strategischen Autonomie haben auch mit der Machtverschiebung der weltweiten Axiome zu tun und müssten eigentlich intensiviert werden. Der Ukrainekrieg hat aber diese Bemühungen erstmal vereitelt, denn die Europäer bleiben auf die konventionellen Verteidigungskapazitäten und den atomaren Schutzschirm der USA angewiesen und können in diesen Kriegszeiten nur sehr schwer Wirtschaft, Verteidigung und Politik im Alleingang gestalten. Jegliche Forderungen, gerade jetzt auf die strategische Autonomie und letztlich Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten hinzuarbeiten, würden als Antiamerikanismus missverstanden und daher diskreditiert werden. Aus diesem Grunde stehen sie jetzt erstmal hinten an.

Die ungarische Regierung hat das sicherheitspolitische Defizit der Region nichtsdestotrotz sehr frühzeitig erkannt und 2016 ein umfangreiches Wehrertüchtigungsprogramm in die Wege geleitet, noch lange vor der erst 2022 angekündigten Zeitenwende von Olaf Scholz. Zudem fordert Ministerpräsident Viktor Orbán schon seit Jahren eine europäische Armee sowie umfangreiche Sicherheitsgarantien für Polen und die baltischen Staaten.  

Was will die Konnektivitätsstrategie?

Die ungarische Strategie der Konnektivität wurde von Balázs Orbán in seinem jüngst publizierten Buch „Hussar Cut. The Hungarian Strategy for Connectivity” vorgestellt. Einzelne Länder, Regionen oder Kontinente können demnach der Gefahr der Blockbildung begegnen. Voraussetzung ist, dass man sich nicht auf eine Konfrontation nach dem Muster „die USA und der Westen gegen den Rest der Welt“ einlässt, sondern einen eigenen Weg einschlägt. Dafür ist aber erforderlich, dass innere Verfasstheit, demokratische Ordnung und intellektuelle Konstitution es erlauben, diese negativen Denkschemata zu verlassen und einen anderen, ausgleichenden Weg einzuschlagen, um mit allen globalen Akteuren nachhaltige Beziehungen in Wirtschaft, Infrastruktur, Wissenschaft, Diplomatie und Politik einzugehen.

Dies ist der Kerngedanke der Konnektivität, die eine auf Ausgleich, Verständigung, Frieden und gegenseitigen Respekt fußende Politik umsetzen will. Voraussetzungen hierfür sind eine entsprechende geographische Lage, eine stabile politische Führung, starke Wirtschaftsakteure, international vernetzte Institutionen, die feste Verankerung in der Region und gut gebildete Staatsbürger.

Auch Frankreichs Präsident Macron forderte, Europa dürfe nicht blind „dem amerikanischen Rhythmus“ folgen. Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz bemerkte zur Konnektivität, es handele sich um das ambitionierte Streben um weitgefächerte politische Beziehungen und ökonomische Kooperation innerhalb und außerhalb der eigenen natürlichen geopolitischen Umgebung. Ungarn kann sich Analysten zufolge zu einem guten Beispiel der Konnektivität entwickeln, hiervon kann Europa auch als Ganzes einen großen Vorteil schlagen.

Eine eminente Säule der angestrebten Konnektivität und der strategischen Autonomie ist insbesondere eine international wettbewerbsfähige Wirtschaft. In diesem Kontext ist die seit 2010 vorgenommene Neuorientierung der ungarischen Wirtschaftspolitik von elementarer Bedeutung. So hat sich die ungarische Exportleistung in den letzten fünfzehn Jahren verdreifacht. Auch die ausländischen Direktinvestitionen erreichen immer neue Höchstwerte. Träger dieser Entwicklung ist vor allem eine Öffnung der ungarischen Wirtschaft nach Osten, denn die Märkte im Westen boten nach den Wirtschafts- und Finanzkrisen keine ausreichenden Wachstumsperspektiven. Voraussetzung dieser erfolgreichen „unorthodoxen“ Wirtschaftspolitik war die Ausübung der nationalen Souveränität über wichtige Instrumente der Finanz- und Wirtschaftspolitik.

Sorgen vor einer abermaligen Fremdbestimmung

Die Regierung in Budapest sieht diese Freiheit jedoch in Gefahr. Die ungarische Politik weist immer wieder darauf hin, dass sich in der Europäischen Union Prozesse vollziehen, die den Interessen Ungarns zuwiderlaufen – nämlich die Politisierung von Wirtschaftsfragen und die Blockbildung. Auch sollte statt einer Blockbildung die globale Ost-West-Kooperation und die globale Nord-Süd-Kooperation stärker gefördert werden. Es gibt heute zudem eine vollständige Diversifizierung der ausländischen Direktinvestitionen.

Festzuhalten ist, dass die Ungarn die Entwicklung von neuen Machtblöcken mit großer Sorge beobachten. Zu lange lebten sie in einem Grenz- und Frontstaat, zu oft war man von fremden Großmächten beherrscht, zu stark ist noch die Erinnerung an die Zeit als Frontstaat des Ostblocks – des Verliererblocks. In Ungarn hat man schlechte Erfahrungen mit großen Imperien gemacht. In einer neuen Blockbildung finden sich die Grenzstaaten der Europäischen Union plötzlich am Rande der eigenen Zivilisation, in einem Übergangsgebiet wieder.

Im 20. Jahrhundert war Ungarn lange Zeit von Feinden umgeben und konnte erst in den letzten Jahren einvernehmliche, nachhaltige und belastbare Partnerschaften in seiner Nachbarschaft und Region aufbauen. In diesem Sinne wird das Land die anstehende EU-Ratspräsidentschaft intensiv zur Ausweitung der Konnektivität in der Region nutzen. Erklärtes Ziel der ungarischen Politik ist es, ein starkes Europa zu erreichen, das selbstbewusst auftreten kann.

Strategische Autonomie Europas

Eine neue Konnektivitätsstrategie ist auch für Europa unausweichlich, wenn es um die Stärkung der strategischen Autonomie und Souveränität des Kontinents geht. Hierbei können die Europäer ihre globale Handlungsfähigkeit wiedererlangen und viel für ihre Selbstbestimmung und Selbstbehauptung tun. Auch kann die strategische Souveränität des Kontinents gedanklich auf der Idee der Konnektivität gründen, denn diese erlaubt es, sich auf seine eigenen Kräfte und Interessen zu konzentrieren, diese auch offensiv zu vertreten und einen eigenen Handlungsrahmen auszubauen. Die Europäische Union wäre demnach gut beraten, die Möglichkeiten der Strategie der Konnektivität zu definieren, anzuwenden und in diesem Sinne in einen friedlichen, belastbaren und nachhaltigen Dialog mit den führenden Mächten einer multipolaren Welt einzutreten, um die eigene Zukunftsfähigkeit als starkes und selbstbewusstes Europa auch weltweit zu sichern.