Zu Beginn der 2000er Jahre steckte nicht nur Ungarn, sondern auch das bürgerliche Lager des Landes in einer tiefen Krise. Die richtigen Schlüsse aus der damaligen Lage ebneten der stärksten bürgerlichen Regierung in Europa den Weg.
Das Land steckt in der Krise. Die Regierung hat fehlgewirtschaftet, der Haushalt ist überzogen und weitreichende Sparmaßnahmen müssen folgen. Der Regierungschef ist in Korruptionsvorwürfe verwickelt, die Reallöhne und -renten sinken seit mehreren Jahren und die Zufriedenheit mit der Regierungsarbeit erreicht historische Tiefstwerte. Die Menschen gehen auf die Straße und fordern den Rücktritt der Regierung, Bauerndemonstrationen legen mit Traktorenzügen die Hauptstadt lahm. Das ist die Situation in Ungarn um das Jahr 2006. Es kann jedoch sein, dass manches davon den Beobachtern des deutschen Geschehens von heute bekannt vorkommt.
Doch während 2024 nach Jahren beispielloser Stabilität und des Aufschwungs in Ungarn das Traktorenfahrverbot in Budapest das Einzige ist, was noch an diese dunklen Zeiten erinnert, weist die heutige Situation in Deutschland Parallelen zu der im Ungarn von vor rund zwei Jahrzehnten auf, die weitaus tiefer greifen. Und es stellt sich die Frage, was das heutige Deutschland aus den ungarischen Erfahrungen eventuell lernen und mitnehmen kann. Denn die Krise der frühen 2000er Jahre hat der stärksten bürgerlichen Regierung in Europa den Weg bereitet. Doch wie realistisch wäre das in Deutschland?
Die ungarische Krise zu Beginn der 2000er Jahre und ihre Folgen
Ähnlich wie in Deutschland 2021 kam in Ungarn im Jahre 2002 eine linksorientierte Regierung an die Macht, die sich zuvor gegen ein tendentiell stärkeres bürgerliches Lager durchgesetzt hatte. Während dies in Deutschland auf eine innere Schwächung und Spaltung der Konservativen, ausgelöst durch Migrations- und Corona-Krise, zurückzuführen ist, setzten sich die Sozialisten in Ungarn im Wesentlichen mit einer Reihe von Tricks und Lügen durch. In beiden Fällen gab es von Anfang an einen enormen Handlungsdruck, da davon auszugehen war, den Wahlsieg unter normalen Bedingungen nicht unbedingt wiederholen zu können.
Sowohl der parteilose Ministerpräsident Péter Medgyessy als auch der ihm 2004 im Amt folgende Sozialist Ferenc Gyurcsány setzten eine Reihe von populistischen Wahlversprechen um, welche den Sozialstaat ungemein aufblähten und den Staatshaushalt bis zur Wiederwahl 2006 massiv belasteten. Als nach der knappen Wiederwahl Gyurcsánys im Jahr 2006 das Ausmaß der unter der Oberfläche entstandenen Haushaltskrise und die nun erforderlichen Sparmaßnahmen bekannt wurden, kam es in den Straßen zu massiven Protesten gegen die „Lügenregierung“. Der Auslöser war die Veröffentlichung einer Geheimrede, in welcher der Ministerpräsident in spektakulär aggressiver, derber und unappetitlicher Art und Weise zugab, das Land in den vergangenen Jahren kaputtgewirtschaftet zu haben.
Zehntausende forderten daraufhin den Rücktritt der Regierung mit der Begründung, dass diese sich den Wahlsieg erlogen habe. Die linke Regierung konterte und verleumdete die Kritiker, einen rechtsradikalen Umsturzversuch anzetteln zu wollen. Diese Diffamierungsversuche trugen aber nur zur starken Solidarisierung der Gesamtbevölkerung mit den Demonstranten bei und untergruben auch das letzte Fünkchen Vertrauen in die Linksregierung. Dass sich diese aber auch nach dem Erdrutschsieg der konservativen Opposition bei den Kommunalwahlen im Oktober 2006 beständig weigerte zurückzutreten, gab ihrer Reputation dann den Todesstoß. Der daraus resultierende „kalte Bürgerkrieg“ ließ das Ansehen der Etablierten ins Bodenlose sinken und bereitete den Konservativen das Feld vor den Parlamentswahlen 2010. Das Jahr 2006 mit den vielen Protesten galt als Erweckungserlebnis des bürgerlichen Lagers und ebnete den Weg der Meinungs- und Deutungshoheit der Konservativen, die über Jahrzehnte anhalten sollte und heute noch für ihre weit beachteten Wegmarken international bekannt ist.
Viktor Orbán ist also nicht durch Zufall an seine Position gekommen, denn kaum einer stand so lange und so intensiv im Rampenlicht der politischen Öffentlichkeit wie er. Er nutzte aber auch die Zeit seit seinem Machtverlust 2002 intensiv, um den vorpolitischen Raum im bürgerlichen Lager umzupflügen, neu zu gestalten und deutlich zu verbreitern. Seit dieser Zeit vermochte es seine Partei, Diskurse zu bestimmen, die Öffentlichkeit zu prägen und bei den Sonntagsfragen ununterbrochen an erster Stelle zu stehen.
Deutsche Parallelen
Die deutsche Ampelregierung hat zur Halbzeit auf ihre eigene Weise fehlgewirtschaftet. Pünktlich zum Neujahr erreichten die Koalition neue Tiefstwerte in den Wahlumfragen und sie kann nun in der Gesamtbevölkerung kaum mehr auf 30 Prozent hoffen. Insgesamt sind über 80 Prozent der Bürger nicht mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden, und weniger als ein Siebtel der Bevölkerung blickt angesichts der jetzigen Lage der Bundesrepublik mit Zuversicht auf das Jahr 2024 und die nähere Zukunft.
Auch das sind Resultate von Misswirtschaft sowie von einem fehlenden Umgang mit den Herausforderungen der Gegenwart wie Migrations-, Wirtschafts-, Energiepolitik.
Auch wenn die Bundesrepublik in näherer Zukunft nicht auf einen Staatsbankrott zuläuft, wie das um 2010 herum in Ungarn der Fall gewesen war, sorgt die aktive Schuldenbremse dennoch spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Schuldenumlage dafür, dass rigide gespart werden muss. Dabei hat der deutsche Staat in den vergangenen beiden Jahren mehr Geld in die Hand genommen als jemals zuvor, und was die Abgabenlast der Zivilbevölkerung angeht, so ist Deutschland unter allen OECD-Staaten auf dem zweiten Platz. Deutschland hat also kein Einnahmenproblem, es hat ein Ausgabenproblem. Das ist auch Finanzminister Christian Linder klar, denn während Milliarden für Ukraine, Migration und Entwicklungshilfe verausgabt werden, müssen nun die eigenen Bürger die Zeche bezahlen. Sie sind die ersten, die den Rotstift zu spüren bekommen.
Das sind dieselben Sorgen, die die Menschen schon 2006 in Ungarn auf die Straßen trieben. Gleichzeitig werden die heutigen Demonstranten teilweise auf dieselbe Art als rechtsradikale Umstürzler abgetan. „Wir sind nicht erpressbar“ war Agrarminister Özdemirs Antwort im ZDF auf Forderungen der Bauernproteste. Allerdings werden die Bauerndemonstrationen von der überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung unterstützt. Die Bauern als eine Gruppe von gefährlichen Extremisten darzustellen und sie dementsprechend zu behandeln, schadet somit nicht nur der Glaubwürdigkeit der Bundesregierung, sondern zeugt von einer ähnlichen Entfremdung zwischen Bürgern und Entscheidungsträgern, wie sie vor zwei Jahrzehnten schon bei den Parteieliten der ungarischen Sozialisten zu beobachten war.
Eine Chance für die Bürgerlichen
Das große gesellschaftliche Frustrationspotential in Deutschland ist kaum von der Hand zu weisen, es wurde durch die Krisen der letzten Jahre angefacht, ein schneller Trendwechsel ist mitnichten absehbar. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob die Bürgerlichen in Deutschland auf eine ähnlich erfolgreiche Art und Weise von dem Versagen der Ampelregierung profitieren könnten, wie es einst die ungarischen Bürgerlichen getan hatten. Können die Bürgerlichen diese gesellschaftlichen Krisen und die hieraus erwachsenden Prozesse als Katalysator für die Durchsetzung ihrer eigenen Agenda von Marktwirtschaft, Sozialstaat, Gesellschaft und Migration nutzen und die Oberhand gewinnen? Dass die nächste Regierungskoalition von einer bürgerlichen Partei geführt wird, gilt als ausgemacht. Umso relevanter ist es, die bestimmenden Themen positiv zu besetzen und entschieden zu kommunizieren.
Die wiederholten Wahlsiege von Orbáns Partei „Fidesz – Ungarischer Bürgerbund“ (zuletzt 2022 mit einer Zweidrittelmehrheit) und die daraus resultierende breite gesellschaftliche Verankerung von „Fidesz“ als ungarische Volkspartei wären wohl kaum möglich gewesen „ohne den moralischen Bankrott eines im Sumpf der Korruption versunkenen und durch politische und wirtschaftliche Inkompetenz immer mehr diskreditierten Systems“, wie es der deutschsprachige Orbán-Kritiker Paul Lendvai formulierte.
Die ungarischen Bürgerlichen konnten unter der starken Führung des charismatischen Viktor Orbán sowie einem breit angelegten und etablierten Wertefundament eine ernstzunehmende politische, aber auch intellektuelle Alternative formulieren. Durch eine erfolgreiche Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik konnte das Land weitestgehend stabilisiert und auf Wachstumskurs gebracht werden. Gleichzeitig hat es „Fidesz“ vermocht, auch in Politikbereichen zu reüssieren, in denen die Partei nicht nur die Unterstützung der bürgerlichen, sondern auch der linken Wähler hatte, zum Beispiel Migrationspolitik, Sozialpolitik, Familienpolitik und Gesellschaftspolitik. So sicherte sich „Fidesz“ langfristig das Vertrauen der Bevölkerung – während gleichzeitig die Opposition zerfiel.
Aus der Krise von heute lernen
Die Aussichten auf eine bürgerliche Kehrtwende in der deutschen Politik sind durchwachsen. Die Bürgerlichen und Konservativen sind gespalten und aufgerieben. Zwar haben die nicht-linken Parteien mittlerweile stimmtechnisch einen ähnlichen Zulauf wie damals in Ungarn, doch ist das auch darauf zurückzuführen, dass sie insgesamt alle mit der Ampel unzufriedenen Stimmen sammeln, ohne jedoch derzeit eine ernsthafte Machtoption zu haben. Bestenfalls kann sich die CDU/CSU vorstellen, mit SPD und FDP eine „Deutschlandkoalition“ zu bilden. Auch von einer ähnlich starken und alle einigenden Führungspersönlichkeit können die bürgerlichen Parteien verschiedener Couleur in Deutschland nur träumen, womit es ihnen an einer der wichtigsten Voraussetzungen für einen neuen Aufschwung mangelt.
Die Bauernproteste der letzten Tage könnten aber der entscheidende Katalysator einer gesellschaftlichen Unzufriedenheit mit der Ampelkoalition und zugleich Ideengeber für das bürgerliche Lager in Deutschland sein. Als Blaupause könnten die wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche und moralische Krise des Jahres 2006 in Ungarn dienen, die die Bürgerlichen dazu brachte, eine ernstzunehmende und seriöse Alternative zur Linksregierung zu formulieren. Eine entschiedene bürgerliche Politik, die sich ernst nimmt, ist auch in Deutschland gefragt. Die notwendige Aufbauarbeit muss aber in der Opposition erfolgen.
Aus jeder Krise kann man wachsen, aufbauen und sich neu erfinden. Daher ist der Tiefpunkt in der öffentlichen Stimmung des Landes auch eine Chance für einen Wiederaufstieg eines alternativen Politikentwurfs zur Ampel. In der Kurve Gas zu geben, das könnte das Motto einer bürgerlichen Renaissance in Deutschland sein. Ungarn blickt hoffnungsfroh auf die deutsche Politik.