Während die Welt auf die US-Präsidentenwahl schaut, stecken die Europäer in einer Führungskrise. Unabhängig davon, wer künftig den Westen führen wird, sollten sie sich auf ihre eigenen Interessen besinnen. Ansonsten werden andere über sie bestimmen
Am Reformationstag kamen in Wien zwei ungleiche Gesprächspartner zusammen: Gerhard Schröder und Viktor Orbán. Der frühere Bundeskanzler und der ungarische Ministerpräsident hatten sich viel zu sagen. Allen voran eint sie ihr Bekenntnis zur Realpolitik, zu einer starken Europäischen Union und zur strategischen Souveränität unseres Kontinents.
Der Erfolgsministerpräsident und der Agendakanzler, das ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch, vielmehr belegen die heutigen Umstände der Weltpolitik, dass es einer Neubewertung der aktuellen Politik bedarf. Dabei müssen vielleicht auch Frontbegradigungen vorgenommen werden, unabhängig vom politischen Hintergrund. Beiden Politikern ist gemein, dass sie die Erfahrung und den Weitblick haben, die kritischen Entwicklungen in Europa schonungslos anzusprechen und mutige Lösungsvorschläge zu machen. Dabei drehen sich die Fragen um die aktuelle Wirtschaftskrise, den Krieg in Europa und die zukünftige Rolle der Europäischen Union in einer multipolaren Welt, deren Hegemon die in vielerlei Hinsicht geschwächten, doch immer noch starken Vereinigten Staaten von Amerika sind.
Die neue europäische MitteAngelehnt an die Begrifflichkeit der Reformpolitik von Gerhard Schröder geht dabei die ungarische Regierungspolitik davon aus, dass die traditionellen politischen Einordnungen von Rechts bis Links so in dieser Form kaum mehr aussagefähig sind, wenn es um die Herausforderungen der heutigen Zeit geht. Dabei sind die Ungarn zwar nicht werteneutral, aber dennoch sehr pragmatisch. Ungarn besinnt sich auf seine jüdisch-christlichen Wurzeln und hält die Grundlagen unserer Zivilisation hoch, indem es sich auf seine nationale und europäische Identität besinnt und die Grundlagen der europäischen Werte achtet. Dies sind aber Fundamente, die unabhängig von der politischen Couleur für jeden Europäer offensichtlich sind. „In Europa ist auch der Atheist kulturell gesehen ein Christ“, so der erste freigewählte ungarische Ministerpräsident József Antall.
Ungeachtet der politischen Verortung will in Ungarn – und wohl auch in Deutschland – die breite Mitte der Gesellschaft gar nichts anderes als in einem friedlichen, freien und sicheren Land leben, in dem man gut und gesichert sein Auskommen findet. Die Menschen wollen durch Arbeit und Leistung vorankommen, durch Anstrengung und Mühe den Lohn für ihr Leben finden, Eigentum und Eigenheim sowie Werte schaffen und ihren Kindern und Kindeskindern eine gute Zukunft sicherstellen. Sie möchten ein erfülltes Leben, mit der Bewahrung ihrer kulturellen, geistigen und moralischen Grundlagen. Dabei sind die Ungarn wohl kaum fundamental anders als die breite Mitte der deutschen Gesellschaft. Allein, es hilft ihnen dort nichts, denn in Deutschland wird durch die aktuelle Ampelpolitik ein ganz anderes Gesellschaftsbild verfolgt und den Leuten zu verkaufen versucht. In Ungarn hingegen wird diesem Lebensgefühl gut entsprochen, auch nicht-konservative Parteigänger unterstützen die Regierung in ihrer Migrations-, Gesellschafts-, Wirtschafts-, Energie- und Friedenspolitik. Daher kann die von Viktor Orbán verfolgte Politik auch gut und gerne als „neue politische Mitte“ betrachtet werden.
Die neue politische Mitte ist ein Bekenntnis, diesen einfachen Grundannahmen der Menschen, die in einem normalen Land leben wollen, zur Entfaltung zu verhelfen. Ungestört alter Befindlichkeiten der alten politischen Strömungen entfaltet sich diese neue Mitte gegenwärtig in vielen europäischen Ländern, ob deren Protagonisten nun Christdemokraten, Konservative, Freiheitliche, Liberale oder Sozialdemokraten sind. Davon zeugt auch die Zusammenarbeit der patriotischen Kräfte im Europaparlament und die Kooperationen mit Regierungen, die diesem klaren Politikbekenntnis folgen.
Patriotisch zu sein ist etwas, das die Menschen verbindet und nicht entzweit. Erinnerlich ist auch das gegenseitige Einverständnis von Realpolitikern, die nicht Illusionen oder Utopien anhängen, sondern ganz pragmatisch auf der Lebenswirklichkeit der Menschen beruhend gute und nützliche Rahmenbedingungen zu setzen imstande waren – unabhängig von der politischen Herkunft stehen dabei Respekt und Wertschätzung im Mittelpunkt. Es soll nicht der moralische Zeigefinger erhoben werden, sondern Unterschiede sind zu akzeptieren, Toleranz ist walten zu lassen und andere Politikansätze sind zu respektieren. Sicherlich ist die aktuelle geopolitische Lage ein Katalysator dieser Entwicklung, gleichwohl können wir Europäer es uns schlicht nicht leisten, uns jetzt in Grabenkämpfe zu verirren.
Die Führungskrise EuropasIn der Zeit der heutigen Krisen ist nicht nur ein Bekenntnis zu einem starken Europa nötig, sondern es sind alle Schritte zu unternehmen, dieses starke Europa auch abseits der Lippenbekenntnisse konkret zu verwirklichen. Dabei bedarf es einer politischen Führung, die ihren Namen auch verdient. Europa ist heute in einer Führungskrise, nur ganz wenige der politischen Leader haben ein starkes Mandat, die meisten verzetteln sich in innenpolitischen Konfliktherden, in langwierigen Koalitionsverhandlungen. Sie sind in ihren Heimatländern in Dreier- und Vielfachkoalitionen Getriebene ihrer selbst und müssen ständig in mühseligen Verhandlungen faule Kompromisse erzielen und einen schlechten Kuhhandel nach dem nächsten Kuhhandel abschließen.
Europa und seine tragenden Mitgliedsländer können aber nur dann stark sein, wenn sie starke und herausragende politische Führungspersönlichkeiten hervorbringen. Solche waren zweifellos Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Sie folgten längerfristigen strategischen Zielen und gaben Halt und Mut. Dem Bekenntnis der Ungarn zufolge gäbe es den aktuellen Krieg um die Ukraine wohl nicht, wenn heute Persönlichkeiten wie der damalige deutsche Bundeskanzler die Geschicke des Kontinents bestimmen würden. Statt-dessen erleben wir ein führungsschwaches Deutschland und ein führungsschwaches Frankreich – eine gefährliche Kombination. Der deutsch-französische Motor stockt und Europa ist den starken geopolitischen Akteuren hoffnungslos ausgeliefert. Aus diesem Grund betonten die Ungarn immer wieder, sie wollten Europa zu alter Stärke zurückführen.
Die strategische Autonomie EuropasEuropa ist heute reich und schwach – eine gefährliche Mischung. Viele Länder des aufsteigenden Ostens sind hingegen (noch) arm, doch sie werden (militärisch und wirtschaftlich) immer stärker. Und sie werden die weltweite Hegemonie des westlichen Lebensentwurfs und die Dominanz der Vereinigten Staaten von Amerika immer mehr anzweifeln und künftig andere Wege gehen. Dabei darf Europa nicht im Abseits stehen, sondern muss sich zu einem starken Partner möglichst vieler globaler Akteure machen. Europa steht fest zur transatlantischen Gemeinschaft, was aber nicht bedeuten kann, anstands- und kritiklos die nicht immer erfolgreiche und zielführende Politik der Vereinigten Staaten zu unterstützen.
Stattdessen nähme sich ein selbstbewusstes, selbstbestimmtes Europa global besser aus – auch zum Vorteil der transatlantischen Staatengemeinschaft. Europa muss dabei seine eigenen Interessen erkennen, sie mutig verteidigen und in den Mittelpunkt stellen. Dabei müssen diese auch ohne oder notfalls gegen die Vereinigten Staaten formuliert und artikuliert werden. Die Rolle der USA wird von immer mehr Ländern des globalen Südens, der BRICS-Staaten und anderen infrage gestellt. Kürzlich bekundeten immer mehr Länder, auch ein NATO-Mitgliedsstaat, Interesse an der Staatengemeinschaft der BRICS. Sicherlich spielen hier auch die eigenen historischen Erfahrungen eine Rolle und auch der koloniale Blick, den die USA aus Sicht vieler Länder manchmal einnehmen oder einzunehmen imstande sind.
Ein Europa, das unabhängig und autonom seine eigene Politik vorbringen und beherzt vertreten kann, kann ein geachteter und geschätzter Partner vieler anderer Länder sein. Die ungarische Strategie der Konnektivität – also des Aufbauens starker Netzwerke zu möglichst vielen globalen Akteuren, anstelle des Ziehens von Trennlinien zu diesen – kann ein erster Schritt in die Richtung eines autonomen Europas sein. Die strategische Souveränität des Kontinents kann also durch ein Einstehen für die eigenen europäischen Interessen verwirklicht werden.
Der Krieg um die UkraineDabei kommt dem Krieg um die Ukraine eine wichtige Rolle zu. Er kann zum Katalysator einer neuen europäischen Einheit werden und die strategische Souveränität unseres Kontinents verwirklichen helfen. Es steht wohl nicht im Interesse der Europäer, diesen Krieg bis zum letzten Mann, das heißt konkret: bis zum letzten Ukrainer, zu führen. Es kann auch nicht in ihrem Interesse sein, die eigene Zukunft zu verspielen und sich wirtschaftlich und politisch zugrunde zu richten. Aus diesem Grund können Europa und die Ukraine gar – ohne die USA – an einem Strang ziehen, die Ukraine könnte zum Geburtshelfer einer neuen strategischen Autonomie werden, wenn sie mit den Europäern eine Friedensinitiative startet und das Heft des Handelns den US-Amerikanern und Russen entreißt.
Internationale Großmächte wie China oder die Türkei wären dabei, wie unter anderem die Friedensmission von Viktor Orbán im Juli 2024 und die Istanbuler Friedensgespräche im April 2022 eindrucksvoll belegt haben. Notwendigerweise muss sich Europa mit diesen globalen Führungsmächten verständigen, um einen dauerhaften Frieden im vom Krieg gebeutelten Land zu erreichen. Dies liegt auch im Interesse der Ukrainer. Wenn Donald Trump im Januar 2025 ins Weiße Haus einziehen wird, steht zu erwarten, dass die USA und Russland Verhandlungen einläuten werden, bei denen die Europäer und auch die Ukrainer nichts zu sagen haben werden. Aus diesem Grund müssen Deutschland und Frankreich selbst die Initiative ergreifen – und möglichst bald zwischen Russland und der Ukraine vermitteln, mit chinesischer und gar mit türkischer Hilfe.
Eine starke europäische Führung, die die Interessen der eigenen Bevölkerung ernstnimmt, seine Handlungsmaxime danach ausrichtet, was für die Europäer gut und richtig ist, ist dringender denn je. Diese europäische Führung muss sich zusehends um eine neue gesellschaftliche Mitte gruppieren, die fernab jeglicher Ideologien ein gutes, sicheres und friedliches Leben führen will. Dabei braucht es starke Führungspersönlichkeiten, allen voran in Deutschland und Frankreich. Die strategische Autonomie des alten Kontinents kann durch Konnektivität und durch eine auf gegenseitigen Respekt fußende Außenpolitik verwirklicht werden, in der die Europäer ihren eigenen strategischen Handlungsrahmen erkennen, formulieren und international danach handeln. Nur so gelingt es, Europa wieder groß und stark zu machen. Die Ungarn sind dabei, denn die Ungarn sind für ein starkes und souveränes Europa.