Wer es ernst meint mit dem Frieden in der Ukraine, muss auf Verhandlungen drängen. Ungarn bietet sich als neutraler Ort für solche Gespräche an.

 

Ungarn ist als Nachbarland der Ukraine direkt vom Krieg betroffen. Bisher starben mehrere hundert Soldaten ungarischer Nationalität (aber ukrainischer Staatsbürgerschaft) als Angehörige der ukrainischen Streitkräfte im Krieg, nicht wenige wurden zwangsrekrutiert. Hiervon weiss die europäische Öffentlichkeit kaum etwas. Ebenso wenig bekannt ist, welchen Einschränkungen die 150 000 Ungarn in der Ukraine ausgesetzt sind, angefangen vom Sprach- und Unterrichtsgesetz, das die ungarische Sprache zurückdrängt, bis hin zum Verbot, ungarische Fahnen zu hissen.

 

Galoppierende Inflation

Trotzdem war für die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán von Anfang an klar, wer der Aggressor ist. Bereits in den ersten Kriegstagen verurteilte Budapest den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine scharf. Bedingungslos bekennt sich Ungarn zur Unabhängigkeit und territorialen Integrität der Ukraine und unterstützt auch deren Streben nach einer EU-Mitgliedschaft.

Über eine Million ukrainischer Kriegsflüchtlinge kamen bisher in Ungarn an, wurden registriert und versorgt. Ein Grossteil von ihnen zog weiter nach Westen, doch viele sind auch geblieben. Sie geniessen eine Vorzugsbehandlung, können frei und kostenlos reisen und einer Erwerbstätigkeit nachgehen (die sie beschäftigenden Arbeitgeber erhalten staatliche Beihilfen). Mehr als tausend ukrainische Studenten besuchen die ungarischen Universitäten, viele von ihnen mit einem Stipendium. Dem Nachbarland werden massenweise Hilfsgüter geschickt, bisher im Wert von dreissig Millionen Euro. Zudem hat sich Ungarn verpflichtet, monatlich 35 000 Tonnen Diesel an die Ukraine zu liefern.

Ungarns politische Führung ist überzeugt, dass es kaum möglich ist, eine Atommacht zu schlagen.

Einzig die strategische Frage der Waffenlieferungen beurteilt die ungarische Führung anders als die meisten Regierungen in Europa. Hierzulande ist man überzeugt, dass Waffenlieferungen den Krieg nur verlängern und damit auch das Leid der ukrainischen Bevölkerung. Dies bedeutet aber nicht, dass Ungarn seine Bündnistreue vernachlässigt. Budapest trägt alle Entscheidungen der Nato und der EU mit.

Auch den verschiedenen Sanktionspaketen der Europäischen Union stimmte Ministerpräsident Viktor Orbán zu. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass er verschiedentlich seine dissenting opinion zum Ausdruck brachte. Seiner Meinung nach sind die Sanktionen zu wenig durchdacht, zeitigen kaum Erfolge und schaden vor allem den Bürgern der EU-Staaten: mit hohen Teuerungsraten, unbezahlbaren Energiepreisen und einer galoppierenden Inflation. In einer im Herbst 2022 eigens durchgeführten Befragung der gesamten ungarischen Bevölkerung nahmen 1,4 Millionen Menschen teil. 97 Prozent von ihnen waren der Auffassung, dass die Sanktionen nachteilige Wirkungen auf Ungarn entfalten.

 

Puffer zwischen den Lebenswelten

Bei Licht besehen, sind die strategischen Interessen Ungarns und der anderen europäischen Staaten ähnlich oder sogar gleich. Es muss zwischen Russland und der Nato ein freies, neutrales, unabhängiges Land existieren, das einen Puffer zwischen den Lebenswelten von West und Ost bildet. Kaum jemand in Europa fordert ernsthaft eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Ebenso ist es allen Verantwortlichen wichtig, dass sich die Europäer nicht in den Krieg hineinziehen lassen und nicht Kriegspartei werden. Eine andere Frage ist jedoch, inwieweit waffenliefernde Länder nicht de facto zur Kriegspartei werden können.

Wir alle wollen Frieden in Europa und in der Ukraine. Einzig die Frage, wie dieser erreicht werden kann, spaltet uns. Während viele darauf spekulieren, dass eine hochgerüstete Ukraine die russischen Angreifer zurückschlagen, wenn nicht besiegen kann, sehen andere, allen voran die Ungarn, dies anders.

 

Realpolitik ist gefragt

Ungarns politische Führung ist überzeugt, dass es kaum möglich ist, eine Atommacht zu schlagen. Eine weitere Eskalation des Konflikts könnte stattdessen uns Europäer in den Abgrund stürzen. Aus diesem Grund appelliert man an die Kriegsparteien, möglichst bald Waffenstillstandsverhandlungen aufzunehmen. Ungarn hat sich verschiedentlich als neutraler Ort für Friedensverhandlungen ins Spiel gebracht.

Unser aller European Way of Life ist es wert, verteidigt zu werden – mit verantwortungsbewusster Realpolitik.