Konservative Politik war schon immer der Zukunft zugewandt. „Konservative Gesinnung“, meinte einst Hermann Wagener, einer der profiliertesten Konservativen der Bismarck-Zeit, sei stets „etwas Höheres und Tieferes als der kleinmütige Wunsch, das, was man hat, möglichst langsam zu verlieren“. Solche Worte verweisen auf eine idealistische Grundierung konservativen Denkens. Und sie markieren ein Potenzial an Werten, die der Konservative zu verteidigen gewillt ist. Denn Bewahren an sich, Konservieren ohne Sinn und Verstand, ist alles andere als ein konservatives Prinzip. Bestehende Zustände bewahren – das wollten 1989 auch die Betonköpfe in Ost-Berlin, doch niemand käme ernsthaft auf die Idee, Honecker, Mielke und Genossen als Vertreter des deutschen Konservativismus zu bezeichnen.

 

Freiheit in der Gebundenheit des Dienstes

Konservativismus ist ein ebenso vielschichtiger wie schwieriger Begriff. Das zeigt ein Blick auf seine Geschichte. Typisch für den deutschen Konservativismus war die heute nur noch schwer vermittelbare Auffassung von der Freiheit in der Gebundenheit des Dienstes. Gemäß dieser Auffassung bestand Freiheit nicht in der Möglichkeit einer schrankenlosen Realisierung individuellen Emanzipationsstrebens.

Wirklich frei war der Einzelne für den Konservativen nur dann, wenn er sich in eine als notwendig und zugleich sinnvoll erkannte Ordnung einfügte. Freiheit galt nicht als bloße Abwesenheit von staatlichen Zwängen oder gesellschaftlichen Konventionen. Freiheit erschien vielmehr als Freiheit zu etwas hin – und das hieß in der Regel: als autonome sittliche Entscheidung für übergeordnete, allgemeinverbindliche Werte. Eine solche Sichtweise steht in Kontrast zur westlich-liberalen Freiheitsauffassung. Doch muss das so sein?

Nationalismus galt als Bedrohung

Auch die heute so geläufige Gleichsetzung von Konservativismus und Nationalismus traf ursprünglich keineswegs zu. Bis in die Zeit Bismarcks war der Nationalismus vielmehr unbestritten eine Domäne der „Linken“, während die „Rechten“ damals zu den entschiedensten Gegnern nationalistischer Bestrebungen zählten – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Die Konservativen wünschten stattdessen überall die Beibehaltung föderativer Strukturen, sie erstrebten eine Stärkung lokaler, regionaler und partikularer Gewalten, und sie propagierten die Zusammengehörigkeit Europas als einer übernationalen, alle Völker umfassenden Friedensordnung. Damit akzentuierten sie die „vorstaatliche“ und die „überstaatliche“ Ebene, wehrten sich aber gegen jeden nationalistischen Überschwang, weil sie darin zu recht ein revolutionäres Prinzip witterten, das die überlieferte Staatenordnung bedrohte. Ernst Ludwig von Gerlach, Gründer und Führer der Konservativen Partei Preußens, sprach 1849 gar vom „Laster des Nationalismus“ und vom „Nationalitätenschwindel“, für den ein preußischer Konservativer nur Verachtung empfinden könne. Erst Bismarcks Reichsgründung von 1871 ließ die preußisch-deutschen Konservativen zu Protagonisten des deutschen Nationalismus werden.

Sozialpolitik – ein genuin konservatives Anliegen

Erhöhtes Interesse verdient – heute mehr denn je – die sich wandelnde Haltung der Konservativen zur Sozialen Frage. Die ihnen hier oftmals unterstellte Indolenz präsentiert sich in historischer Perspektive nämlich als das genaue Gegenteil. Sozialpolitik war stets ein genuin konservatives Anliegen – und jedenfalls alles andere als eine Errungenschaft des Sozialismus. Schon ein Vierteljahrhundert vor dem Auftreten von Karl Marx prangerten konservative Autoren wie Adam Müller oder Franz von Baader das Problem der Proletarisierung der Volksmassen öffentlich an. Und wiederum war es Ernst Ludwig von Gerlach, der seinen konservativen Parteifreunden im Revolutionsjahr 1848 mit aufrüttelnden Worten ins Gewissen redete: „Nur in Verbindung mit den darauf haftenden Pflichten“, so meinte er damals, „ist das Eigentum heilig; als bloßes Mittel des Genusses ist es nicht heilig, sondern schmutzig.“

Nach 1850 haben führende konservative Köpfe vor allem in Preußen mancherlei kühne Konzepte zur Lösung der Sozialen Frage entwickelt. Ihr Ziel war es, die Arbeiterschaft auf evolutionärem Weg, ohne gewaltsamen Umsturz der bestehenden Sozialordnung, in den monarchischen Staat zu integrieren. Es gehört zu den großen Verhängnissen der deutschen Geschichte, dass solche zukunftweisenden Konzeptionen nicht die Chance einer Realisierung erhielten, dass der konservative Sozialismus vielmehr durch die politisch so katastrophale Ideologie des Marxismus marginalisiert, verdrängt und bewusst der Vergessenheit überantwortet wurde. Noch heute strickt die sogenannte Linke eifrig und weitgehend unwidersprochen am Mythos ihres Kompetenz- und Exklusivitätsanspruchs in allen Fragen des sozialen Gewissens!

Der Kernbestand im konservativen Ideenhaushalt

Konservatives Denken ist sich freilich in seinem historischen Entwicklungsgang nicht in allen seinen Facetten gleichgeblieben. Manches hat sich während seiner zweihundertjährigen Geschichte verändert, und vieles ist mittlerweile obsolet geworden. Doch es gibt einen festen Kernbestand im konservativen Ideenhaushalt, der heute so aktuell erscheint wie eh und je.

Dazu gehört der Gedanke, dass all jene sozialen Formationen, die sich in langer Entwicklung allmählich herausgebildet und behauptet haben, ernst zu nehmen und weiter auszubauen sind, weil sich in ihnen ein Erfahrungsschatz akkumuliert hat, der schlechthin unersetzlich ist. Das Gewordene gilt dem Konservativen mehr als das Gemachte, und zum horriblen Schreckbild gerät ihm die Gestalt des revolutionären Neuerers, der die Welt aus ihren Angeln heben und sie auf abstrakte Prinzipien gründen will, statt sie aus dem Gegebenen heraus organisch fortzubilden.

Zu den konservativen Konstanten zählt ferner die Wertschätzung einer Ordnung, die sich durch gestufte Mannigfaltigkeit auszeichnet, und die in den egalisierenden Tendenzen der Moderne eine Verarmung und Verkümmerung ursprünglicher Lebensfülle erblickt. Gleichheit gibt es nur im Leichenschauhaus. Wo Leben herrscht, existiert stets auch Ungleichheit. Vielfalt bietet bessere Daseinsperspektiven als ödes Einerlei, Hierarchien ermöglichen effektivere Profilbildungen als plane Ebenen, Eliten leisten mehr als Massen.

Dosierter gesellschaftlicher Fortschritt

Ungleichheit ist aber auch die Voraussetzung für einen dosierten gesellschaftlichen Fortschritt, wie der Konservative sich ihn wünscht. Denn Fortschritt ist für den Konservativen eine akzeptierte Selbstverständlichkeit. Um ihm Nachhaltigkeit zu verleihen, möchte der Konservative ihn jedoch nur innerhalb fester Verankerungen wagen. Denn er weiß, dass jeder Fortschritt mit Verlusten erkauft wird, und dass solche Verluste am ehesten durch die Existenz funktionserprobter Bindungen zu kompensieren sind. Daher akzeptiert der Konservative gesellschaftliche Regularien, weil diese nicht nur Halt vermitteln, sondern auch der Herausformung gruppenspezifischer Identitäten dienlich sind, ohne deren Existenz ein Leben in der Geborgenheit schlechthin undenkbar erscheint. Solche Bindungen können in vielerlei Gestalt auftreten: als Bindungen an die Heimat oder an den Beruf, an die Familie oder an die Religion, an die Landschaft oder die Kultur – und selbstverständlich weiterhin auch an die Nation.

Die Sehnsucht nach solchen Bindungen wächst – gerade in Krisenzeiten wie der unseren. Man muss nicht unbedingt ein Konservativer sein, um solche Sehnsucht zu empfinden. Aber vielleicht könnte diese Sehnsucht ja den Anlass bieten, ein Konservativer zu werden?