Wie lange hält die neue Bundesregierung? – Meine derzeit bestmögliche Antwort: entweder zwei Jahre – oder zwei Wahlperioden.
Weshalb vielleicht nur zwei Jahre? Weil ihr Regierungsprogramm voller Widersprüche steckt, die zu heftigen Konflikten führen können! Der erste Widerspruch ist der zwischen jenen Hoffnungen, auf die der Koalitionsvertrag gegründet ist, und der tatsächlichen Beschaffenheit der Wirklichkeit. Da wird etwa auf „europäische Souveränität“ als Mittel zur Stärkung der EU gesetzt, während doch das Vereinigte Königreich gerade um seiner eigenen Souveränität willen aus der EU geflüchtet ist und wirklich niemand außer Deutschland die eigene Souveränität in einem europäischen Bundestaat aufgeben will. Da soll jene Energielücke, die durch den gleichzeitigen Verzicht auf Kern- und Kohleenergie aufgerissen wird, durch russisches Erdgas geschlossen werden – und das in der Hoffnung, Russland werde seine für uns lebenswichtig werdenden Gaslieferungen niemals als politisches Druckmittel einsetzen. Und da soll das Erdklima ganz dringlich dadurch stabilisiert werden, dass unser Land, auf welches keine 2 Prozent der weltweiten CO2-Immissionen zurückgehen, mit einem gigantischen Kostenaufwand rasch „CO2-neutral“ wird. Diese Widersprüche werden nicht unbemerkt bleiben; und sogar unseren Journalistinnen und Journalisten werden sie auffallen, sobald sie nicht mehr vordringlich damit beschäftigt sind, die Regierungsmacht von Habeck und Baerbock herbeizumoderieren.
Der zweite Widerspruch findet sich zwischen vielen Zielen, die sich diese Regierung gesetzt hat. Einerseits will sie die Migration in die EU erleichtern – und andererseits hält sie am Ziel fest, nicht alle Migranten in Deutschland anzusiedeln, sondern sie quer über die EU zu verteilen. Doch beides gemeinsam wird sich wegen der Politik so gut wie aller anderen EU-Staaten schlicht nicht verwirklichen lassen, weil diese nämlich gerade auf die Unterbindung von selbstermächtigter Zuwanderung ausgeht und außerdem die Aufnahme von eigentlich nach Deutschland wollenden Migranten schlicht ablehnt. Oder es strebt die neue Bundesregierung in den Ministerräten der EU häufigere Mehrheitsbeschlüsse an – und wünscht sich zugleich eine gemeinsame Migrationspolitik der EU. Was also wird Deutschland unternehmen, wenn es dabei hinsichtlich seiner eigenen migrationspolitischen Vorhaben überstimmt wird, also: wenn es seine als humanitär alternativlos ausgegebene Migrationspolitik per Mehrheitsbeschluss abgelehnt bekommt? Auf welches Ziel wird die Bundesregierung dann verzichten wollen – und zu welchen innenpolitischen Kosten?
Der dritte Widerspruch ist der zwischen jenem Lerndruck, der auf den Regierungsmitgliedern lastet, und der Lernbereitschaft des parlamentarischen Fußvolks sowie der Parteimitglieder. Die Bauministerin etwa wird schnell lernen, dass es mit gigantischen öffentlichen Wohnungsbauprogrammen schwierig wird, wenn es im Baugewerbe einen großen Fachkräftemangel gibt, wenn allenthalben die Kosten für Baumaterialien steigen, und wenn außerdem die Verbindung eines deutlich höheren Mindestlohns mit der Wirkung des Entsendegesetzes für Arbeiter anderer Staaten auf deutschen Baustellen die Baupreise noch weiter nach oben treibt. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen wird die Bauministerin auch schnell lernen, dass die vielen Finanzierungszusagen im Koalitionsvertrag ohne Steuererhöhungen nicht einzuhalten sind. Entsprechend werden viele Ministerinnen und Minister nach einem Jahr bereit sein, ihre Visionen und Pläne denn doch der Wirklichkeit anzunähern. Werden aber die Fraktionskollegen das ebenso schnell einsehen? Und gar erst die Parteimitglieder? Wird es da nicht rasch zu Kritik dahingehend kommen, die nunmehrigen Amtsinhaber machten es sich zu einfach, verrieten einstige Zusagen, ja brächen wichtige Wahlversprechen? Und welche Wirkungen wird das dann auf die Kommentare der Journalistenschaft, auf die öffentliche Meinung und auf das Abstimmungsverhalten bei den kommenden Landtagswahlen haben?
Der vierte Widerspruch ist der zwischen den Koalitionspartnern. Soziale Sicherheit, die der SPD sehr am Herzen liegt, ist nicht ohne merkliches Wirtschaftswachstum zu haben. Lässt sich aber der den Grünen am Herzen liegende ökologische Umbau unserer Wirtschaft wirklich so vornehmen, dass unsere exportgetriebene Wirtschaft eher wächst als schrumpft? Der Klima- und Wirtschaftsminister Habeck wird das zwar versuchen. Doch damit ist selbst ein umsichtig unternommener Versuch nicht schon gelungen. Und der FDP-Finanzminister will zwar seine Partei nicht ein weiteres Mal in eine Überlebenskrise führen, indem er vom strengen Kassenwart zum Schleusenöffner für eine Politik sich ausweitender Staatsverschuldung wird. Doch wie soll anderweitig alles das finanziert werden, was der Koalitionsvertrag an Hilfen und Unterstützung verspricht?
Diese Koalition wird jedenfalls in vielerlei Konflikte geraten. Es ist dabei nicht auszuschließen, dass manche von ihnen wie Glaubensfragen behandelt werden – und nicht wie legitime Meinungsverschiedenheiten, die man pragmatisch beizulegen versucht. Häufen und verbinden sich aber solche Konflikte, und zwar gleich in mehreren der vier knapp umrissenen Dimensionen, dann werden die Zerreißkräfte in und zwischen den Partnerparteien nicht nur wachsen, sondern sie werden auch solche Eigendynamik entwickeln, die sich nur schwer beherrschen lässt. Am Ende mag dann der eine oder andere Koalitionspartner sein Heil gar in der Flucht suchen – wie der linke SPD-Flügel während der letzten Großen Koalition. Zwar misslang damals die Flucht. Doch auf Ähnliches sollte man angesichts der schwelenden Konflikte bei den Grünen und der prekären Glaubwürdigkeit der FDP besser nicht wetten.
Wenn also so tiefgreifende Konflikte zu erwarten sind: Weshalb könnte dann diese Regierung trotzdem ihre ersten zwei Jahre überleben und dann zwei Wahlperioden lang durchhalten? Erstens vertraue ich auf die Lernfähigkeit gar nicht weniger Regierungsmitglieder. Es handelt sich bei etlichen ja um wirklich tüchtige und kluge Leute, denen unser Land noch mehr am Herzen liegt als eine beifallsträchtige Sturheit beim Vertreten einst geäußerter Überzeugungen. Als verantwortliche Anführer ihrer Parteien werden sie vermutlich berücksichtigen, dass über den Erfolg ihrer Politik die Fähigkeit entscheidet, gerade Reformpolitik über etliche Jahre hinweg fortzusetzen, also nicht gleich wieder abgewählt zu werden. Das aber ist ein starker Anreiz dafür, rechtzeitig solche politischen Positionen zu verändern oder gar aufzugeben, die sich als unplausibel herausstellen. Und vielleicht schaffen es tüchtige Politiker – wie einst Helmut Schmidt, Gerhard Schröder oder Joschka Fischer – dann auch, ihre Partei zumindest einige Jahre lang auf einen, nach anfänglichem Überschwang, vernünftigen Kurs zu bringen. Das kann freilich das Amt kosten wie in den Fällen von Schmidt und Schröder – oder ein intaktes Gehör, wie das Joschka Fischer nach einer anscheinend „pazifistisch motivierten“ Farbbeutel-Attacke widerfuhr.
Zweitens halte ich es für durchaus nicht unmöglich, dass die Regierung tatsächlich einige wichtige Probleme unseres Landes löst – freilich um den Preis einer Abkehr bisheriger Anhänger und eines dann folgenden Machtverlusts. Die bislang stark ideologisch getriebene Migrations- oder Energiepolitik der Grünen und Sozialdemokraten wird nämlich in der Praxis ebenso wenig funktionieren wie einst die von Helmut Kohls Reformansätzen Abstand nehmende Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Schröder/Fischer. Die eigene fehlerhafte Politik kann man aber nur von einer Position der Macht aus korrigieren – falls man es nicht vorzieht, lieber die Macht zu verlieren als eine eigentlich doch gewünschte Politik zu revidieren. Aber ebenso, wie die Union einst die Agenda 2010-Reformen der rot-grünen Bundesregierung unterstützte, würde sie es bei wirklich problemlösenden Reformen der lange schon falsch angelegten Migrations- und Energiepolitik tun. Doch es fehlt für ein entsprechendes Miteinander weiterhin die – derzeit auch noch gar nicht zu erwartende – Einsicht der Ampelpartner. Doch die wird irgendwann kommen. Dann wird man einmal mehr die Richtigkeit des folgenden, freilich in ganz anderen Umständen formulierten Satzes erkennen: Nur Richard Nixon, ein bekannter und in dieser Eigenschaft auch nie angezweifelter Kommunistenfresser, konnte „nach Peking reisen“, um belastbare Beziehungen zu Maos China aufzubauen. Entsprechend wird nur eine von Grünen und Sozialdemokraten geführte Bundesregierung die Autorität besitzen, Deutschlands genau von diesen Parteien angeschobene Migrations- und Energiepolitik zu revidieren. Und dagegen wird die oppositionelle Union ebenso wenig Widerstand organisieren wie einst gegen die Agenda 2010. Die eigenen Anhänger werden eine solche Kurskorrektur zwar viel weniger schätzen. Doch Missmut von Anhängern wiegt viel weniger als die Wohlfahrt eines Landes. Allerdings zieht solcher Missmut dann auch leicht den Machtverlust nach sich – dann freilich erst beim Versuch, den Zuschlag für eine dritte Wahlperiode der Ampelkoalition zu erhalten.
Ferner steht in den Sternen, wann denn überhaupt eine alternative Bundesregierung herbeigewählt werden kann. Das ist allerdings weniger eine Frage des nächsten ordnungsgemäßen Wahltermins oder einer vorzeitigen Auflösung des Bundestages. Vielmehr ist derzeit nicht absehbar, wann denn, und ob überhaupt je wieder, sich die CDU von ihrer inhaltlichen Auszehrung und ihrer Zerstrittenheit ob ihres künftigen Kurses erholt – und die CSU von ihrem Niedergang in Bayern. Doch selbst wenn beides während der nächsten vier bis sechs Jahre gelingen sollte, ist da immer noch die AfD. Mit der kann die CDU nämlich für alle absehbare Zeit nicht zusammenwirken, sofern der trotzig-bockige Verbalradikalismus dieser Protestpartei weitergeht wie bislang. Doch ohne die AfD gibt es nun einmal keine Mehrheit mehr für eine CDU-geführte Bundesregierung ohne Einschluss – neben der FDP – auch der Grünen oder der SPD. Also ist die Ampelkoalition wirklich solange alternativlos, wie sie sich nicht zerstreitet oder zerlegt. Und eben deshalb besitzt sie gute Chancen, durchaus zwei Wahlperioden lang zu regieren – oder, beim Anhalten des Elends von CDU und AfD, sogar noch länger.
Wie soll sich angesichts einer solchen Zukunft verhalten, wem das Programm dieser neuen Regierung nicht gefällt? Wenig wird ihn – oder sie – die Aussage trösten, dass die neue Regierung doch im Wesentlichen die Politik Angela Merkels fortsetzt, nur eben ohne die Bremswirkung der CDU sowie mit dem Fuß auf dem Gaspedal. Noch weniger wird ihn – oder sie – trösten, dass die vermutlich scheiternden Versuche einer noch weiter liberalisierten Migrationspolitik sowie einer aufs Durchregieren gegründeten Energiepolitik unserem Land schaden werden, und zwar fühlbar für so gut wie alle. Vielleicht aber tröstet es ein wenig, dass die an solchen Folgen kenntlich werdenden Irrtümer der neuen Regierung wohl viele illusorische Politikvorstellungen der ganzen, nun nachgerückten Politikergeneration vor Augen führen werden – und dabei womöglich so abschreckend wirken, dass die nächste politische Generation sich wieder für Vernunft und Augenmaß öffnet.
Doch vor allem kann man sich mit dem Gedanken trösten, dass die Aussage, Demokratie lebe vom Wechsel, ja auch dann richtig bleibt, wenn ein gerade stattfindender Machtwechsel einem selbst nicht gefällt. Und vielleicht täuschen sich ja nicht immer nur die anderen, sondern widerfährt das bisweilen auch einem selbst. Immerhin gefiel die vorherige Regierungskoalition sehr vielen im Lande auch nicht – so dass es keinen zwingenden Grund zum Klagen gibt, wenn einem nun dasselbe widerfährt! Und schließlich, sowie vor allem: Wäre denn die Union in ihrer derzeit inhaltlich wie personell jämmerlichen Lage überhaupt imstande, eine Bundesregierung anzuführen?
Sehen wir also nun hundert Tage lang einfach neugierig zu, was die Ampelkoalition aus ihren Möglichkeiten macht. Und sollte das etwas Gutes für unser Land sein: Wer wollte sich wegen einer solchen Überraschung dann wirklich beklagen!