Am 11. August 2022 kam der Spielfilm Der junge Häuptling Winnetou, inspiriert durch die Romane von Karl May, in die deutschen Kinos. Am selben Tag brachte der Ravensburger Verlag unter dem gleichen Titel zwei Kinderbücher heraus, die die Geschichte des Spielfilms aufarbeiten. Keine zehn Tage nach der Premiere kündigte allerdings Ravensburger in einer Mitteilung an, die Bücher aus dem Verkauf zu nehmen. Die Begründung: Rassismus.
Der Ravensburger Verlag, in Ungarn vor Allem durch Puzzles und Gesellschaftsspiele bekannt, hat seine Entscheidung mit den Reaktionen der Kunden begründet. In den sozialen Medien wurden in der Tat zahlreiche Texte mit offensiven Inhalten zum neuen Winnetou-Spielfilm und den begleitenden Büchern gepostet.
Dabei wurde vor Allem beanstandet, dass sich die Geschichte, die auf der Romanreihe von Karl May beruht, zahlreicher rassistischer Stereotypen aus kolonialistischer Zeit bediene und somit schädlich für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern sein könne.
Der Verlag hat sich in einer Mitteilung für das Feedback bedankt, sich bei der Leserschaft, die sich beleidigt fühlte, entschuldigt und weitere Maßnahmen versprochen: „Unsere Redakteur*innen beschäftigen sich intensiv mit Themen wie Diversität oder kultureller Aneignung. Die Kolleg*innen diskutieren die Folgen für das künftige Programm und überarbeiten Titel für Titel unser bestehendes Sortiment. Dabei ziehen sie auch externe Fachberater zu Rate oder setzen "Sensitivity Reader" ein, die unsere Titel kritisch auf den richtigen Umgang mit sensiblen Themen prüfen. Leider ist uns all das bei den Winnetou-Titeln nicht gelungen. Die Entscheidung, die Titel zu veröffentlichen, würden wir heute nicht mehr so treffen. Wir haben zum damaligen Zeitpunkt einen Fehler gemacht und wir können euch versichern: Wir lernen daraus!“
Der Vorwurf, rassistisch zu sein, wurde in den vergangenen Jahren gegen zahlreiche Kinderbücher und Märchen in Deutschland erhoben – dazu gehören die beliebten Bücher über Pippi Langstrumpf und Jim Knopf. Während sich bei Pippi Langstrumpf der Verlag „lediglich“ für eine neue Schreibweise der beanstandeten Namen entscheiden hat, ist der aktuelle Fall der Erste, bei dem der Verlag selbst aus Gewissensgründen und freiwillig ein Kinderbuch aus dem Verkauf nimmt – noch dazu so kurz nach der Veröffentlichung. Diese Entscheidung entzweit die Gesellschaft in Deutschland ungemein, denn viele meinen, die Bücher seien Opfer der Cancel Culture geworden. Außerdem stellt sich die weiterführende Frage, was die Zukunft für die deutsche Literatur bringe, wenn ein allseits angesehener Verlag wegen kritischer Misstöne in die Selbstzensur flüchtet.
Die Entscheidung des Ravensburger Verlags scheint noch weniger verständlich, wenn man sich zusätzlich vergegenwärtigt, dass die Filmadaption, die als Grundlage der Bücher diente, mit 950.000 Euro durch den FilmFernsehFonds Bayern gefördert und durch die Deutsche Film- und Medienbewertung als „besonders wertvoll“ eingestuft wurde. Obwohl einige an der Bewertung beteiligte Mitglieder der Jury der Meinung waren, dass „es in unserer Zeit nicht mehr zulässig sei, einen Film und im Besonderen einen Kinder- und Jugendfilm im Geist der mythisch aufgeladenen und sehr klischeehaft darstellenden Karl May–'Folklore' zu realisieren“, das beispielsweise den Genozid an der eingeborenen Bevölkerung komplett außer Acht lässt um des literarischen Idylls willen. An dieser Stelle stellt sich natürlich die Frage, was von der aktuellen Jugend- und Kinderliteratur übrig bleiben würde, wenn sämtliche Inhalte im Zeichen der politischen und historischen Wirklichkeit und Korrektheit geprüft und bis ins letzte Detail seziert wären. Eines ist sicher: die Werke von Karl May würden an dieser Prüfung scheitern, weil sie in einer Zeit entstanden sind, als in Europa und in den Vereinigten Staaten das Primat des weißen Mannes zu der Prämisse zählte. Dabei stellt sich die Frage, ob es denn für die Kinder mehr von Nutzen sei, diese Werke in der ursprünglichen Form lesen zu können und Hilfestellung für eine kritische Wertung zu erhalten, als dass sie im Zeichen der politischen Korrektheit einfach neu gefasst oder ausgelöscht werden.
Ähnlichen Fragen gehen auch etliche Postings nach, die die Mitteilung des Ravensburger Verlags kritisieren – außerdem haben zahlreiche deutsche Literaten, Medienpersönlichkeiten, Filmkritiker und Politiker sich offen für Winnetou ausgesprochen. Der ehemalige Bundesaußenminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel hat seine Emotionen zu diesem Fall über Twitter zusammen gefasst: „In meiner Kindheit habe ich die Bücher von Karl May geliebt. Das hat mich genauso wenig zum Rassisten gemacht, wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Und deshalb bleibt Winnetou auch im Bücherregal für meine Kinder. Und wir werden uns auch den Film ansehen.“ Und obwohl den Kommentaren nach zahlreiche Bundesbürger die Meinung Gabriels teilen, zeugt die Reaktion von Canan Bayrem, MdB der Grünen, davon, dass es Politiker in der Bundesrepublik gibt, denen es nicht leid tun würde, wenn Winnetou verboten werden würde: „Wir haben als Gesellschaft die Chance, den einst erlernten Rassismus, zu verlernen. Dabei sollten wir uns nicht scheuen auszusprechen, dass ein ehemaliger Bundesminister seinen Rassismus weiter pflegen will. Gut, dass er nicht mehr in der Regierung ist“.
Wie auch immer kann trotz der entzweienden Entscheidung des Ravensburger Verlags die Gesellschaft in der Bundesrepublik beruhigt sein: kürzlich hat der Direktor des 1913 eigens für den Vertrieb von Mays Büchern im deutschen Sprachraum gegründeten Karl May Verlags, Bernhard Schmid, angekündigt, die Romane der Winnetou-Reihe nach wie vor in Deutschland zu vertreiben. Schmid empfiehlt Kritikern, sich anstatt der Kommentare die Zeit zu nehmen, die Bücher von Karl May zu lesen, vor Allem „ Winnetou I.“„worin er ausgiebig den Völkermord an den indianischen Ureinwohnern zum Thema macht und anprangert“.