Unser Bericht liefert einen umfassenden Überblick zu den vorläufigen Ergebnissen der ungarischen Parlamentswahlen vom 03. April 2022.

Vorläufige amtliche Ergebnisse

Am 3. April 2022 fanden die Wahlen zur 9. Ungarischen Nationalversammlung statt. Nach Auszählung von 98,97 % der Stimmen stehen die Sieger und Verlierer der Wahl eindeutig fest. Dabei konnten die Regierungsparteien Fidesz und KDNP das Rennen das vierte Mal in Folge für sich entscheiden.

Mit 53,29 % der Listenstimmen und 88 der 106 Direktmandate bleiben die Regierungsparteien Fidesz und KDNP stärkste Kraft und können mit insgesamt 135 Mandaten im 199-köpfigen Parlament weiterhin mit einer Zweidrittelmehrheit regieren. Insgesamt errangen sie 2.758.502 Zweitstimmen.

Das Oppositionsbündnis mit Péter Márki-Zay an der Spitze errang 34,89 % der Zweitstimmen (1.805.899 Stimmen) und 18 Direktmandate und schickt daher 56 Abgeordnete ins Parlament. Damit bleibt sie weit hinter den ersten Prognosen, die ein knappes Rennen vorhersahen.

Zur Überraschung der meisten Beobachter gelang der rechtsextremen Mi Hazánk (Unsere Heimat), die sich 2018 als Flügel der Jobbik von der Mutterpartei abgespalten hatte und mit zwei Abgeordneten im Parlament war, die Überwindung der 5%-Hürde. Obwohl sie keine Direktmandate erzielen konnte, darf sie dank 6,15 % der Listenstimmen (318.168 Stimmen) sieben Abgeordnete in die Ungarische Nationalversammlung entsenden.  

Endergebnis erst am Wochenende

Das Ergebnis gilt als vorläufiges Ergebnis, da die außerhalb ihres Wahlbezirks und die im Ausland und an den Konsulaten Abstimmenden noch nicht miteingerechnet sind. Ferner wurde in jedem Wahlkreis jeweils ein Wahllokal nicht ausgezählt. Der Grund ist folgender: Um das Wahlgeheimnis sicherzustellen, müssen die Stimmen der Bürger mit Ummeldung (Abstimmung in einem anderen Wahlkreis, aber für den Kandidaten des Heimatwahlkreises) und Anmeldung (Abstimmung an einem ungarischen Konsulat im Ausland, ebenso für den Kandidaten des Heimatwahlkreises) mit den Stimmzetteln eines vorher festgelegten Wahllokals des Heimatwahlkreises vermengt werden. Dies geschieht erfahrungsgemäß nach Eingang der Stimmzettel im Heimatwahlkreis gegen Wochenmitte, so dass erst am Wochenende mit einem endgültigen Ergebnis gerechnet werden kann. Aus diesem Grunde variiert der Auszählungsstand von Wahlkreis zu Wahlkreis etwa zwischen 98 und 99 %. Dieses Mal betrug die Zahl der Angemeldeten 65.683, die Zahl der Umgemeldeten belief sich auf 158.525 Personen. Im Wahlkreis Budapest 13 ist das Ergebnis so knapp, dass sich theoretisch noch ein anderes Ergebnis einstellen kann. Gegenwärtig führt der Fidesz-Kandidat mit 38 Stimmen, jedoch müssen noch über 2.900 Wahlzettel ausgezählt werden. In Pécs, wo noch bis zu 3.439 Stimmen ausgezählt werden müssen, führt der Kandidat der Opposition mit 300 Stimmen, bei einer Auszählung von 98,88 % der Wahlzettel.

Auslandsungarn

Hiervon zu unterscheiden ist die Zahl der Auslandsungarn, also der Menschen mit ungarischer Staatsangehörigkeit ohne Wohnsitz in Ungarn. Dies sind die autochthonen ungarischen Minderheiten der Nachbarländer, aber auch Ungarn, die überall in der Welt verstreut leben, also etwa in Deutschland, in Israel, den USA oder anderswo. Diese stimmen per Briefwahl ab, haben aber keine Erststimme, da sie in Ermangelung eines ungarischen Wohnsitzes keinem Wahlkreis zugeordnet werden können.

Die Auslandsungarn machen mit etwa 456.000 registrierten Wählern einen nicht unbedeutenden Teil der 8,2 Millionen wahlberechtigten Ungarn aus. Bei den Wahlen 2018 gaben etwa 224.000 Auslandsungarn eine gültige Stimme ab, über 96 % derer stimmten für Fidesz-KDNP. Bei den aktuellen Parlamentswahlen gingen den Zahlen der Nationalen Wahlkommission nach 225.478 Stimmen aus dem Ausland ein, bei denen sich ein ähnlicher Trend zugunsten der Regierungsparteien abzeichnen könnte. Weitere Details über die Stimmenabgabe im Ausland können Sie hier finden.  

Anders als in einigen internationalen Medienberichten suggeriert wird, hat diese Personengruppe kein Mehrrecht, sondern ein Minderrecht: Sie hat nur die Listenstimme (Zweitstimme), nicht hingegen die Wahlkreisstimme (Erststimme). Jeder Ungar, der das Land verlässt, muss sich - wie in Deutschland auch – offiziell bei der Meldebehörde abmelden und wird so zum Auslandsungarn, die Erststimme entfällt. Viele Ungarn halten sich jedoch nicht an die Regeln, weil sie ihren Inlandswohnsitz nicht aufgeben wollen. Damit gelten sie weiterhin als im Lande lebend und werden so behandelt, als wenn sie sich nur vorläufig im Ausland aufhielten. Daher müssen sie zur Stimmabgabe an das Konsulat, verfügen aber weiterhin auch über eine Erststimme. Die Opposition bemängelte, dass diese Personengruppe angeblich schlechter gestellt würde, weil sie teilweise lange Wege auf sich nehmen müsse, um zum jeweiligen Konsulat zu gelangen. Diese Kohorte wäre der Opposition gegenüber besonders wohlgesonnen, daher diese Mutmaßungen der Opposition. Die Wahrheit aber ist, dass das ungarische Wahlrecht eine Unterscheidung zwischen Wählern mit Inlandswohnsitz und jenen ohne Inlandswohnsitz vornimmt, ohne Berücksichtigung etwaiger Parteibindungen. Das Instrument der Stimmabgabe am Konsulat ist eigentlich nur für die vorübergehend sich im Ausland Befindlichen gedacht.

Vergleich zur letzten Parlamentswahl 2018

Die Listenverbindung aus Fidesz-KDNP konnte im Vergleich zu 2018 (133, davon 116 Fidesz und 17 KDNP) ihren Vorsprung um zwei Mandate ausbauen (135, davon 118 Fidesz und 17 KDNP). In absoluten Zahlen gesehen hat Fidesz-KDNP bei den jetzigen Wahlen 2.735.381 Stimmen bekommen und hiermit 53,29 % der Listenstimmen, 2018 stimmten 2.824.551 Ungarn für Fidesz-KDNP, was 49,27 % der Zweitstimmen ausmachte.

Die Oppositionsparteien wiederum konnten noch vor vier Jahren insgesamt 65 Mandate erringen, dieses Mal kamen sie kaum noch an diese Zahl heran. Noch 2018 war die Verteilung wie folgt: Jobbik 26, das Linksbündnis MSZP/Párbeszéd 20, die Demokratische Koalition 9 und die LMP 8 (Momentum scheiterte an der 5%-Hürde), des Weiteren waren Együtt und ein unabhängiger Kandidat mit je einem Platz vertreten sowie außerhalb der Parteilisten die Ungarndeutschen mit einem Mandat. Während der Legislaturperiode änderte sich die Aufstellung folgendermaßen: Jobbik: 17, MSZP: 15, DK: 9, LMP: 6, Párbeszéd: 5, Unabhängige: 13, Ungarndeutsche: 1.

Nach den gestrigen Parlamentswahlen stellt die DK mit 16 Politikern die meisten Abgeordneten des Oppositionsbündnisses, gefolgt von 11 Vertretern der Momentum-Partei, Jobbik wie MSZP ziehen mit 9 Abgeordneten ins Parlament ein, Párbeszéd mit sieben und die LMP mit vier. Das Kräfteverhältnis innerhalb des Oppositionsbündnisses hat sich damit wegen der schwächelnden Jobbik klar nach links verlagert. Die Demokratische Koalition des vormaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány ist eindeutig der Platzhirsch unter den Oppositionsparteien. Einen Überblick über die wahrscheinliche personelle Aufstellung im Parlament können Sie hier ansehen. Sollte Márki-Zay (Párbeszéd) sein Mandat nicht annehmen, würde Jobbik mit einem Abgeordneten nachrücken.

Die anderen Parteien scheiterten an der 5%-Klausel. Die vor allem in den Großstädten repräsentierte Satirepartei des „Hundes mit zwei Schwänzen“ vereinte immerhin 3,29 % der Listenstimmen auf sich, die neue MEMO-Bewegung des Geschäftsmannes György Gattyán kam auf 1,09 %, die Partei des Normalen Lebens, praktisch die ungarische Querdenker-Bewegung, erhielt 0,73 %.

Die Wahlbeteiligung lag bei 69,54 % und war damit leicht unter der von 2018 (70,22 %).

Ergebnisse in den Wahlkreisen

 

Bei den Wahlen 2018 konnte Fidesz-KDNP 91 der 106 Direktmandate gewinnen, davon 85 außerhalb von Budapest und sechs in Budapest. Auf dem Land konnten die Regierungsparteien fast alle Wahlkreise für sich entscheiden, lediglich Dunaújváros ging an die Jobbik. In den Großstädten Szeged (MSZP) und Pécs (unabhängig) konnte Fidesz keine einfache Mehrheit erlangen, anders in allen anderen Großstädten wie etwa Debrecen, Miskolc, Kecskemét usw. Im Zuge der Parlamentswahlen 2022 konnte Fidesz seine Überlegenheit im ländlichen Ungarn ausbauen – Dunaújváros ging knapp an den Direktkandidaten von Fidesz. In den Großstädten Pécs und Szeged behielt das Oppositionsbündnis die Oberhand. Vorab rechneten Experten mit einem Geländegewinn der Opposition auf dem Lande, da für das Erlangen eines Direktmandates die einfache Mehrheit ausreicht. Vor dem Hintergrund der Vereinigung der Opposition hätte sie rein rechnerisch bessere Chancen gehabt als 2018, als die Oppositionsparteien einzeln antraten.

 

 

In Budapest konnte die nun vereint angetretene Opposition ihre Dominanz ausbauen. Vor vier Jahren gewann sie 12 der 18 Wahlbezirke, 2022 verdrängte das Linksbündnis die Regierungsparteien in zwei Außenbezirke und entschied somit 16 der 18 Walkreise für sich. Die vereinte Opposition konnte dadurch 16 ihrer insgesamt 18 Direktmandate in der Hauptstadt gewinnen.

 

Einigen Wahlkreisen galt ein besonderes Augenmerk, vor allem dem Wahlkreis Csongrád-Csanád 4, in dem der Ministerpräsidentenkandidat der Opposition und amtierender Bürgermeister der Stadt Hódmezővásárhely Péter Márki-Zay gegen János Lázár von Fidesz antrat. Dem ehemaligen Kanzleramtsminister János Lázár, der bei einer Niederlage seine politische Karriere praktisch hätte beenden müssen, räumte man nicht allzu viele Chancen gegen den Spitzenkandidaten Márki-Zay ein. Zu Márki-Zays Beschämung gewann János Lázár den symbolischen Wahlkreis mit 52,3 % der Erststimmen. Márki-Zay wählten in seinem Heimatwahlbezirk nur 39,58 % der Abstimmenden.

Ein anderer Wahlkreis, in dem ein in Deutschland nicht unbekannter Politiker antrat, befand sich ebenso im Rampenlicht. Im Wahlkreis Veszprém 3 kandidierte der frühere EU-Kommissar für Kultur, Bildung, Jugend und Sport Tibor Navracsics gegen den einstigen Bürgermeister von Tapolca, den Jobbik-Politiker Lajos Ríg. Navracsics, der sich nicht auf der Landesliste befand und dessen politische Karriere bei den diesjährigen Parlamentswahlen auf der Kippe stand, geht mit 51,47 % der Stimmen als Sieger hervor.

Ungarndeutsche stellen erneut Abgeordneten

Die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen konnte über 24.000 Stimmen gewinnen und damit erneut ausreichend Stimmen, um mit Emmerich Ritter einen Abgeordneten ins ungarische Parlament zu entsenden. Wegen der Bestimmungen des ungarischen Systems der Minderheitenrepräsentation reichten den Ungarndeutschen bereits 25 Prozent der andernfalls für den Mandatserwerb erforderlichen Stimmen der Parteilisten. Die anderen zwölf Nationalitäten schafften den Einzug in die Ungarischen Nationalversammlung nicht mit einem vollwertigen Abgeordneten, sondern mit einem sog. Sprecher, der ein Rede-, aber kein Stimmrecht hat. Mit Ausnahme der Roma hatten sie ohnehin nur eine hypothetische Chance. Mehr zur Vertretung der Nationalitäten im Parlament können Sie hier nachlesen.

Entwicklungen vor den Wahlen und Hintergründe

Das bestimmende Thema im Wahlkampf war der Ukrainekrieg, wodurch damit verbundene Fragen außen- und sicherheitspolitischer Natur sowie Frieden, Stabilität, Sicherheit und Energieversorgungssicherheit in den Fokus der diesjährigen Wahl gerieten. Während die Opposition die Regierung beschuldigte, dem Regime von Wladimir Putin nahezustehen, warfen Vertreter von Fidesz-KDNP der vereinten Opposition vor, Ungarn in den Krieg hineinzuziehen zu wollen.

Vor der Zuspitzung des Konflikts in der Ukraine führte Fidesz-KDNP ihre Kampagne unter dem Motto „Vorwärts, nicht rückwärts“, womit sie die Aufmerksamkeit auf die bei sehr vielen Ungarn als desaströs empfundene Regierungszeit von Ferenc Gyurcsány (2004-2009) richten wollte. Gyurcsány sei demnach nach wie vor Strippenzieher der linken Parteien, Péter Márki-Zay seine Marionette. Dem entgegen müsse man die erfolgreiche bürgerliche und an den ungarischen Interessen orientierte Politik der vergangenen zwölf Jahre fortführen. Das Oppositionsbündnis wiederum versprach unter anderem eine Westorientierung Ungarns und eine Abrechnung mit den „korrupten Fidesz-Politikern“, bzw. generell einen Systemwechsel.

2018 dominierten noch Themen wie Migration und die Zukunft der Europäischen Union. Für mehr Informationen zu den Entwicklungen im Vorfeld der Wahlen besuchen Sie die Website unseres Institutes unter Wahlen in Ungarn. Dort finden Sie auch Wissenswertes unter anderem zum ungarischen Wahlrecht, zu den Wahlvorhaben der Parteien, Fristen, Kandidaten und Besonderheiten des Wahlsystems.

Referendum zum Kinderschutzgesetz

Zeitgleich mit den Parlamentswahlen fand am 3. April die Volkabstimmung über die Inhalte des Kinderschutzgesetzes statt. Nach Auszählung von 98,94 % der Stimmen haben 3.521.425 (44,46%) einen gültigen Wahlzettel abgegeben, 1.590.772 (20,08%) votierten ungültig, 2.809.048 (35,46%) nahmen am Referendum nicht teil. Dementsprechend ist die Volksabstimmung nicht wirksam, da die 50%-Schwelle an gültigen Stimmen nicht erreicht wurde. Die Regierungsparteien riefen zuvor auf, die Fragen (wie z. B.:  Sind Sie dafür, dass Kindern Informationen über geschlechtsangleichende Behandlungen gegeben werden dürfen?) mit Nein zu beantworten. Die überragende Mehrheit der gültigen Stimmen – bei vier Fragen über 95 % – entsprach dem „Nein“ im Sinne der Unterstützung des Kinderschutzgesetzes vom Juni 2021. Trotz der fehlenden Verbindlichkeit des Referendums dürfte Fidesz-KDNP wegen der hohen Zahl der absoluten „Nein“-Stimmen an ihrem Kurs und damit an den im Kinderschutzgesetz formulierten Inhalten festhalten. Politisch gesehen haben knapp 3,5 Millionen Wähler den Kurs der Regierung in dieser Frage unterstützt, was knapp eine Million Wähler mehr sind als die Zahl der Listenstimmen. Bereits beim sog. Quotenreferendum über die EU-Quote zur Ansiedlung von Migranten stützten gut 4 Millionen Wahlbürger die Position der Regierung. Hierbei geht es für Fidesz-KDNP auch nicht um den rechtlichen Akt des Referendums, sondern um die politische Kommunikation und die Verifizierung einer großen Anzahl an Unterstützern.

Für eine eingehendere Analyse lesen Sie unseren Vorfeldbericht.

Sonntagsfragen vor der Wahl

Die im März veröffentlichten Wahlumfragen zu den Parlamentswahlen wiesen durchweg einen Vorsprung der regierenden Fidesz-KDNP Koalition gegenüber dem Zusammenschluss der Oppositionsparteien aus. Der Vorsprung war jedoch nicht gleichmäßig ausgeprägt und bewegte sich in einem Bereich zwischen zwei bis elf Prozentpunkten.

Da die Opposition in den Wahlkreisen geschlossen auftrat, waren sich die meisten Beobachter im Vorhinein einig, dass eine Zweidrittelmehrheit der Regierungsparteien rechnerisch zwar unwahrscheinlich – aber nun eingetreten ist. Auch der Mi Hazánk prophezeite man keinen Einzug ins Parlament und sah sie gleichauf mit der Partei des „Hundes mit zwei Schwänzen“ bei etwa 3 %. 

Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Meinungsforschungsinstitute nur sehr behutsam den Wahlsieg von Fidesz-KDNP antizipierten und kein einziges Institut die erneute Zweidrittelmehrheit im Blick hatte. Einzig das Médian Institut gab am Wahltag eine Prognose von 128 Abgeordneten der Regierungsparteien heraus, was relativ nahe am tatsächlichen Ergebnis von 135 Abgeordneten war, aber ebenso das Erreichen der Zweidrittelmehrheit nicht vorhersagen konnte.

Anmerkungen zum Wahlrecht

Anders als viele Beobachter im Vorfeld suggeriert haben, begünstigt das Wahlrecht nicht einseitig die Regierungsparteien Fidesz und KDNP, sondern allgemein große und geeinte Formationen mit Hochburgen, (vgl. auch Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung vom 9. April 2018)  - so gesehen konnte schon im Jahre 2018 die Demokratische Koalition trotz des vergleichbaren schlechten Ergebnisses etliche Wahlkreise direkt erobern. Auch 2022 gelang es der Opposition, aus dem ungarischen Mehrheitswahlrecht Kapital zu schlagen. Obwohl sie in Budapest mit den Listenstimmen Fidesz-KDNP nur knapp schlug, eroberte sie 16 von 18 Wahlkreisen, also fast alle.

Erste Reaktionen

Es zeichnete sich bereits am Wahlabend ab, dass sich die Regierungsparteien nicht nur behaupten und ihre Zweidrittelmehrheit bewahren, sondern sogar noch an Stimmen und Mandaten dazugewinnen konnten. Entsprechend selbstsicher und zufrieden fiel die Siegesrede von Viktor Orbán gegen 23 Uhr am Abend aus. Der errungene Wahlsieg sei so gewaltig, „dass man ihn sogar vom Mond sehen kann, und ganz gewiss aus Brüssel“.  Man habe sich gegen jede Formation der Opposition durchsetzen können, 2010 beim ersten Wahlsieg im alten Wahlsystem der zwei Wahlrunden, dann 2014, als Fidesz-KDNP von den Oppositionsparteien einzeln herausgefordert wurde, 2018 gegen den teilweisen Zusammenschluss der Opposition und 2022 gegen die vollständige Vereinigung der Oppositionsparteien. Diesen erneuten Wahlsieg bezeichnete Orbán als eine klare Botschaft an die globale Linke und internationalen Medien, an Brüssel und an das Soros-Netzwerk, dass die christdemokratische, bürgerlich-konservative und patriotische Politik nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft sei.

Bei der Wahlveranstaltung der Opposition musste der ehemalige Hoffnungsträger und Spitzenkandidat der Opposition Péter Márki-Zay die Wahlniederlage, ohne die Unterstützung der anderen Vertreter der Sechsparteienkoalition, eingestehen. Die Parteivorsitzenden der beiden größten Oppositionsparteien, Ferenc Gyurcsány (DK) und Péter Jakab (Jobbik), blieben der Rede von Márki-Zay fern und lieferten sich währenddessen einen Wettstreit darum, wer sich schneller und entschiedener von Márki-Zay distanzieren konnte, den sie als alleinigen Verantwortlichen für die überraschend deutliche Wahlniederlage darstellten. 

Das überraschende gute Abschneiden der rechtextremen Mi Hazánk bietet auch eine Erklärung für das schlechte Wahlergebnis der Opposition. Jobbik zieht nur mit neun statt wie 2018 mit 26 Abgeordneten ins Parlament ein und wurde abgestraft für den Versuch, als Rechtsaußenpartei mit linksliberalen Parteien koalieren zu wollen. Dem Parteivorsitzenden László Toroczkai gelang es, einen signifikanten Teil der enttäuschten Jobbik-Wähler für seine Partei zu mobilisieren, die er als „dritten Weg“ in der ungarischen Politik bezeichnet. Das Wahlergebnis seiner Partei bezeichnete er als ein Wunder, da sie sowohl gegen die Regierung als auch die vereinte Opposition angetreten waren.

Die ungarischen Parlamentswahlen lösten ein starkes Echo in den internationalen Medien aus. In der Mehrheit der internationalen Medien wurde eine Fortsetzung des Konfliktes zwischen Ungarn und der EU in Aussicht gestellt und die vermeintliche politische Nähe Orbáns zu Putin angeprangert. Dies trifft in weiten Teilen auch auf die deutsche Medienlandschaft zu. Den erneuten Wahlsieg Orbáns bezeichnete etwa der Spiegel als eine schlechte Nachricht für die ungarische Demokratie. Auch die ablehnende Haltung Orbáns zu möglichen Russlandsanktionen im Energiesektor wurde mehrfach thematisiert.

Bei der Betrachtung und Auswertung der Wahlen und des Rekordergebnisses der Fidesz meldeten sich jedoch auch andere journalistische Stimmen zu Wort, insbesondere solche, die in der Wahlnacht in Budapester vor Ort anwesend waren und von dort berichteten. Klaus Kelle vom Online-Magazin The Germanz sieht in dem erneuten Erdrutschsieg Orbáns kein Ende der Demokratie, sondern vielmehr eine Bestätigung des anhaltenden Zuspruches der Bevölkerung für die Politik und Positionen des langjährigen Regierungschefs.

René Nehring von der Preußischen Allgemeinen Zeitung verfolgte die Wahlen ebenso aus Budapest und sieht in dem erneuten und anhaltenden Erfolg des Fidesz ein bedeutendes Signal an die Politiker in Brüssel und vor allem an die anderen christdemokratischen Parteien in Europa. Er stellt in Frage, ob der aktuelle Kurs zahlreicher christdemokratischer und konservativer Parteien, sich immer weiter von den eigenen Traditionen und Werten zu entfernen, um dem vermeintlich liberalen Zeitgeist Westeuropas gerecht zu werden, eine erfolgversprechende Strategie darstellt. Nehring bezweifelt dies und sieht den Weg zu einer möglichen Renaissance des europäischen Konservatismus in einer Rückkehr zu den christdemokratischen Wurzeln.

Eine Position, die auch von Klaus-Rüdiger Mai, einem Visiting Fellow des Mathias Corvinus Collegiums (MCC), geteilt wird. Mai sieht den Erfolg von Viktor Orbán ebenfalls in seiner langjährigen und konsequenten Verkörperung konservativer Werte begründet, die er auch gegen teils massiven Widerspruch im In- und Ausland zu verteidigen bereit war. Diese Standfestigkeit des ungarischen Ministerpräsidenten verschaffte ihm Glaubwürdigkeit in der konservativen Wählerschaft des Fidesz und resultierte in einem hohen Maß an Vertrauen in seine politische Führung. Durch diese Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit habe Orbán sich bei dieser Wahl auch deutlich von der oppositionellen Sechsparteienkoalition unterschieden.

Ausblick

Die erste konstituierende Sitzung der neuen Ungarischen Nationalversammlung findet binnen 30 Tagen, also spätestens am 3. Mai 2022 statt. Erfahrungsgemäß wird diese Frist auch ausgeschöpft werden, da das rechtsgültige, also nicht mehr anfechtbare Endergebnis der Wahl am 22. April 2022 feststeht. Mit der Wahl des Ministerpräsidenten durch die Ungarische Nationalversammlung und der Bildung der neuen Regierung ist in den ersten Maiwochen zu rechnen.

Die Situation der ungarischen Oppositionsparteien ist mit dieser vernichtenden Wahlniederlage katastrophal. Die mit großem Optimismus abgehaltenen Vorwahlen waren in der Retrospektive wohl kaum mehr als Makulatur. Offensichtlich waren die parteipolitisch weniger gebundenen, jungen Teilnehmer der Vorwahl die große Hoffnung des Oppositionskandidaten Márki-Zay. Diese nahmen aber weder im Wahlkampf, noch bei der Listenaufstellung kaum eine wesentliche Rolle ein. Hingegen konnten die linken Parteien und Jobbik den unerfahrenen, erratischen und unberechenbaren Márki-Zay an die Wand spielen. Die vielen unbedachten Aussagen des Kandidaten ließen die Parteien schnell von ihm abrücken, in der Wahlnacht ließ man ihn komplett alleine. Die Demokratische Koalition und Jobbik gaben eigene Reaktionen ab, der Jobbik-Vorsitzende erklärte klar und deutlich, dass man sich die Zukunft ohne Márki-Zay vorstelle.

Márki-Zay, der das Direktmandat deutlich verfehlte, könnte als Listenerster dennoch in die Ungarische Nationalversammlung einziehen. Dann müsste der allerdings aufgrund der Bestimmungen des ungarischen Kommunalrechts den Posten des Bürgermeisters seiner Heimatstadt aufgeben. Im Parlament wäre er alleine und isoliert, als einziger Vertreter seiner politischen Formation und bar jeglichen politischen Einflusses. Die Vermutung liegt nahe, dass er nicht als politischer Scheintoter im Parlament vertreten sein will, sondern sich auf seine kommunalpolitischen Aufgaben zurückzieht. Dies bestätigte er in einem ersten Interview am Tage nach der Wahl dann auch.

Es ist davon auszugehen, dass die sich die Regierungsparteien durch das massive Wählervotum in ihrem Kurs bestätigt sehen und eine Fortsetzung der bisherigen Politik anstreben. Das Wählervotum von 53,29 % übertrifft das Ergebnis von 52,7% beim Erdrutschsieg von 2010 noch ein wenig und gilt als einmalig in Europa. Insbesondere in der Wirtschafts-, Familien- und Migrationspolitik konnte das Land in den letzten Jahren beachtliche Erfolge erzielen, die auch europaweit beachtet wurden. Viktor Orbán ist als Dienstältester des Europäischen Rates zusehends zu einem wichtigen Player in der europäischen Politik geworden. Die Ansprache des Ministerpräsidenten in der Wahlnacht lässt erkennen, dass er sich dieser Rolle sehr bewusst ist und einen markanten Entwurf einer revitalisierten konservativ-christdemokratischen Politik setzen möchte. Damit sind alle Blicke auf den nächsten wichtigen Urnengang, nämlich die Europawahlen im Mai 2024, gerichtet. Bei diesen Wahlen wird auch erkennbar sein, ob sich die bürgerlichen Kräfte in Europa neu erfinden können. Die ungarische Regierungspartei Fidesz ist bereit, eine lebendige und erfolgreiche Neuerfindung bürgerlicher Politik miteinzubringen.