Die globalen Entwicklungen der letzten Jahre haben die europäischen Länder mit einer Reihe politischer, wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen konfrontiert, die unser Kontinent noch immer weitgehend unbewältigt gelassen hat. Gleichzeitig haben die Verengung des politischen Diskurses, einseitige Interessensvertretung und mitunter schlichte Realitätsferne die Möglichkeiten für rationales und kritisches Denken überschattet, das zur Lösung der Probleme erforderlich ist.
So resümiert Prof. Dr. Matthias Herdegen, Direktor am Institut für Öffentliches Recht sowie am Institut für Völkerrecht der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn, in seinem 2023 erschienenen Buch mit dem Titel „Heile Welt in der Zeitenwende: Idealismus und Realismus in Recht und Politik“ die besondere Lage der westlichen Welt, vor die uns die Zeitenwende in der internationalen Weltordnung gestellt hat. In Anlehnung an Prof. Herdegens brandaktuelles Werk der Allgemeinpolitik lud das Deutsch-Ungarische Institut für Europäische Zusammenarbeit (DUI) am Mathias Corvinus Collegium (MCC) am 4. Mai 2023 zum Vortrag „Tektonische Verschiebungen in der Weltordnung: neue Verantwortung für die Europäische Union?“ samt Podiumsdiskussion mit dem Autor ein. Moderiert wurde der Abend von Dr. Alexander Grau, freier Publizist, Philosoph, Kultur- und Wissenschaftsjournalist sowie Visiting Fellow am DUI. Die Veranstaltung wurde von rund 60 Teilnehmern besucht.
Bence Bauer, Direktor des DUI, betonte in seiner Eröffnungsrede den Wendepunkt der freien westlichen Wohlstandsgesellschaft vom Idealismus einer heilen Welt zu neuen Herausforderungen. Die Zeit auf der Insel der Seligen könnte sich ihrem Ende nähern, sofern man die westliche Freiheit nicht adäquat verteidige. In diesem Sinne gelte es, weniger allein vom verklärten Gesichtspunkt der Moral und viel mehr auch von einem realistischen Standpunkt aus über die Verteidigung unserer bewährten und teuren demokratischen Prozesse nachzudenken.
Professor Herdegen erläuterte einleitend die Ausgangssituation der Europäischen Union vor der Zeitenwende als politischer und militärischer Zwerg, der lediglich im Bereich der Wirtschaft seine Kompetenzen annähernd versucht hatte auszuspielen. Die europäische Sehnsucht nach Frieden und Harmonie habe eine realistische Betrachtungsweise der Welt lange verhindert. Nun jedoch sei Europa eben jener Realismus zwangsweise aufgedrückt worden. Es gelte nun, mit der Geschichte zu gehen und eine interessengeleitete Politik in den Fokus zu nehmen. Die westliche Welt befände sich in einem Konflikt zwischen Autokratie und Diktatur auf der einen und Demokratie auf der anderen Seite. In diesem Konflikt, obwohl die EU derzeit noch zögere, müsse man die Denkweisen und Weltsichten von Staaten wie Russland, China, dem Iran oder der Türkei nachvollziehen können, um auf der internationalen Bühne zu bestehen. Der Rest der Welt denke nicht nur in Kategorien der Kooperation und der Werte.
Ein selbstständiges Europa könne es nur geben, wenn es sich um seine eigene Sicherheit selbst kümmere, zitierte Herdegen die Rede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron aus dem Jahre 2017. Europa müsse sich selbst schützen, dabei aber – in diesem Punkt widersprach Herdegen Macron – dürfe man sich aber nicht von den USA distanzieren. Ansatzpunkte für ein Umdenken machte er unter anderem an einer veränderten Beurteilung der europäischen Migrations- und Grenzschutzpolitik und neuen umfassenden Investitionen in die eigene Souveränität fest. Der idealistische Blick auf die Welt würde langsam einer Perspektive von Sicherheit und Schutz weichen.
Das EU-Prinzip der Einstimmigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik stelle momentan noch eine Hürde für eine entschlossene Entscheidungsfindung dar. Einen Übergang zum Mehrheitsprinzip müsse man diskutieren, um zu schnelleren dauerhaften Ergebnissen zu kommen. Es stelle sich nun die Frage, inwieweit es eine Interessens- und Wertekonvergenz innerhalb der Europäischen Union gebe und inwieweit eher eine Divergenz. Das Verhältnis zu Russland und der Ukraine, zu chinesischen Investoren, zur Führungsrolle Deutschlands und Frankreichs, zur Rolle der Atomenergie stellten Themen dar, in welchen sich diese Divergenzen äußerten.
Herdegen betonte, der Ruf nach strategischer Autonomie Europas sei realitätsfern, benötige man dafür doch fünf Prozent des europäischen BIPs über einen langfristigen Zeitraum. Bedenke man, dass für das europäische Ziel der Klimaneutralität weitere fünf Prozent benötigt werden würden und die meisten Europäer nicht einmal das NATO-Ziel von zwei Prozent schaffen würden, sei diese Forderung vollkommen unrealistisch. Vielmehr gelte es nun, glaubwürdige Positionen zu formulieren und dadurch strategische Überraschungen zu vermeiden. „Wir müssen wieder eine Generation heranziehen, die in der Lage ist, strategisch zu denken und aus dem Dämmerschlaf unter dem Schutzschild der USA aufzuwachen“, plädierte Herdegen. Er beschloss seinen Vortrag mit der Frage, ob Europa genug Standhaftigkeit nach außen und genug Zusammenhalt nach innen besitze.
In der anschließenden Podiumsdiskussion gingen Herdegen und Grau der Frage nach, ob Europa nach 1945 jemals eine eigene Verantwortung gehabt hatte oder dies nun eine vollkommen neue Situation sei. Dabei hob Herdegen positiv hervor, dass sich Europa unter der neuen Bedrohung unerwartet handlungsfähig gezeigt hatte. Die selbstverschuldeten sicherheits- und energiepolitischen Abhängigkeiten, die man sehenden Auges in Kauf genommen hatte, habe man rascher als erwartet, wenn auch viel zu spät, mindern können. Auch die Frage, ob in einer EU vieler verschiedener Einzelinteressen die Vorstellung einer gemeinsamen strategischen Position nicht eine Fata Morgana sei, wurde erörtert. Hierbei setzte sich Herdegen für eine gemeinsame Grundlinie ein, die überdies jedoch die Flexibilität und Pluralität der Mitgliedsstaaten ermögliche. Der Frage nach dem Vorrang der Wirtschaftsmacht Europas vor der militärischen Macht setzte er ein Konzept entgegen, in dem diese zur Sicherung von Wohlstand und Demokratie auch in Entwicklungsländern außerhalb Europas Hand in Hand gehen müssten.
Fragen aus dem Publikum beschlossen den Abend, so unter anderem nach der Möglichkeit einer Führungsrolle der Region Mittelosteuropa innerhalb der EU, weiterhin nach einer politischen Führungspersönlichkeit Europas oder den Nachteilen für die kleineren Nationen der EU beim Verlassen des Einstimmigkeitsprinzips. Die Veranstaltung klang im Rahmen eines Stehempfangs aus, auf dem die gemeinsame Diskussion fortgesetzt wurde.
Während seines Aufenthalts hatte Prof. Dr. Matthias Herdegen im Rahmen seines Fachprogramms die Gelegenheit, sich die Arbeit des MCC-Forschungszentrum für Privatrecht durch den Leiter des Zentrums Prof. Dr. István Varga kennenzulernen. An der Deutschsprachigen Universität Andrássy Gyula in Budapest traf er Dr. Heinrich Kreft, den Leiter des Fachbereichs Diplomatie. Herr Herdegen traf sich auch mit wichtigen Persönlichkeiten der deutsch-ungarischen Beziehungen, darunter Gergely Gulyás, Minister des Ministerpräsidentenamtes, Kristóf Altusz, Diplomatischer Direktor des Büros der Staatspräsidentin, Csaba Hende, Vizepräsident des Parlaments, Prof. Dr. Gergely Deli, Rektor der Nationalen Universität für den öffentlichen Dienst und Ágoston Mráz, Direktor des Nézőpont-Instituts.