Wokeness und Kapitalismus scheinen ein Widerspruch zu sein. Denn wie soll eine angeblich neomarxistische Ideologie mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem zusammenpassen? Dr. Alexander Grau, freischaffender Publizist, Philosoph und Visiting Fellow des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit, skizzierte in der Veranstaltung „Der woke Kapitalismus“ am 17. Mai 2023 im Scruton Café des Mathias Corvinus Collegium vor gut 50 Gästen, wie es kommen konnte, dass die Moral zum alles dominierenden Element zeitgenössischer Diskussionen werden konnte, welche Rolle die kapitalistische Konsumgesellschaft dabei spielt und wo die gemeinsamen Wurzeln von Kapitalismus und Wokeness liegen.

Die Veranstaltung wurde vom Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit, Bence Bauer, eröffnet, der in seiner Reder die Bedeutung des wissenschaftlichen Austausches in den deutsch-ungarischen Beziehungen hervorhob. Dabei betonte er, dass das Institut in diesem Jahr bereits fünf Visiting Fellows für längere Aufenthalte in Ungarn begrüßen konnte, was den Dialog zwischen unseren Ländern intensiv stärke. Ferner sprach Bauer über das Thema der Veranstaltung, den Kapitalismus, als eine solche Ordnung, die auf Privateigentum an den Produktionsmitteln und einer Steuerung von Produktion und Konsum über den Markt beruht. Dieser Kapitalismus als gesellschaftliches Prinzip und Produktionsweise war es, an dem sich ab dem 19. Jahrhundert der Marxismus kritisch abarbeitete und ihn zum Feindbild machte – so der Direktor.

In seinem Vortrag sagte Grau, dass man seit einigen Jahren einen erstaunlichen Trend in der westlichen Welt beobachten könne. Internationale Konzerne, aber ebenso nationale Unternehmen, engagierten sich zunehmend politisch, vor allem links und grün, man denke an die vielen Nachhaltigkeits- und Diversitystrategien. Nicht ohne Grund sehe man oft die Regenbogenflagge an Gebäuden verschiedener Unternehmen. Vor diesem Hintergrund würde, so Grau, das althergebrachte Bündnis von Konservativen und Kapital hinterfragt. Um dieses Phänomen zu erklären, ging der Visiting Fellow auf die Geschichte und Entwicklung des Kapitalismus an, der vor etwa 200 Jahren eine neue gesellschaftliche Ordnung mit sich brachte. Im Laufe der Zeit führte dieser Wandel dazu, dass die Massen- und Konsumgüterindustrie eine Ideologie der permanenten Veränderung in der Gesellschaft implementieren konnte. Das Anschaffen von immer schöneren, besseren und funktionsfähigeren Gütern und somit der Hedonismus sind zur Grundlage des menschlichen Strebens geworden. Seiner Meinung nach lieferte die neumarxistische Linke der 1960er Jahre den ideologischen Überbau für diese kapitalistischen Handlungsmuster, da sie die letzten Reste der auf Sparsamkeit und Selbstbeschränkung basierenden bürgerlichen Welt wegfegten. Daher lautet seine These: Im woken Kapitalismus findet zusammen, was zusammengehört.

Im Endeffekt zeige sich, dass sich die Menschheit in einem weltweiten Kulturkampf befinde. Auf der einen Seite steht die Idee einer wirtschaftsliberalen, globalen, universalistischen Zivilisation, die auf das Traditionelle verzichtet. Auf der anderen Seite steht eine bunte Mischung all jener Gruppen, die sich dagegen wehren, so Grau. Ob sich der Siegeszug des kulturpolitischen linken, globalen Kapitalismus aufhalten lässt, sieht der Philosoph skeptisch.

Des Weiteren beantwortete er die Fragen des Moderators der Veranstaltung, Márton Böhm, Forschungskoordinator Deutsch-Ungarischen Instituts. Dabei fragte Böhm unter anderem nach möglichen positiven Auswirkungen des woken Kapitalismus und bezog sich auf dessen umweltschützende und antidiskriminatorische Botschaften. Grau betonte, dass diese Form des Kapitalismus selbstverständlich auch positive Auswirkungen haben kann, nichtsdestotrotz müsse man sich fragen, in welchem Ausmaß Unternehmen ohne demokratische Legitimierung berechtigt seien, politischen Einfluss auszuüben. Die Podiumsdiskussion endete mit Fragen des Publikums, die nachher im Rahmen eines Empfangs weiter vertieft werden konnten.