Das deutsche Führungsvakuum wird in weiten Teilen Europas auch als solches vernommen, und dies verheißt nichts Gutes. Die deutsche Ohnmacht wird besonders in Mittelosteuropa als bedrohlich empfunden.

EIN GASTBEITRAG VON BENCE BAUER am 6. Dezember 2022 in der Zeitschrift CICERO

In gut einem Monat jährt sich der wegweisende Elysée-Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich zum 60. Male. Das auch als Grundlagenvertrag verstandene Abkommen der einst verfeindeten europäischen Länder wurde am 22. Januar 1963 von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer unterzeichnet und galt als Wegbereiter der deutsch-französischen Aussöhnung, als Modell europäischer Annäherung und Grundlage gelebter Völkerverständigung.

Der aus dem Vertrag herrührende politische, ideelle und moralische Anspruch strahlte weit in das 21. Jahrhundert hinein und gab Europa ein echtes Wertefundament. Die hierin begründeten Ansätze trugen viel zum europäischen Einigungswerk bei und begründeten den Willen der beiden größten Länder der Europäischen Union, sich als Motor der europäischen Integration verstehend, den Kontinent gemeinsam und in enger Symbiose zu führen.

Dieser Motor ist jedoch in jüngster Vergangenheit ins Stocken geraten. Was dies für Mittel- und Osteuropa, insbesondere Ungarn, bedeutet, ist Gegenstand intensiver Debatten im In- und Ausland. Die Ungarn verfolgen sehr aufmerksam, wie sich die Verstimmungen im deutsch-ungarischen Miteinander auf die Region und auf ganz Europa auswirken dürften. 

Frankreich sucht und findet seine Rolle

Ungarn war Gastgeber des V4-Gipfels im Dezember 2021, an dem auch der französische Staatspräsident Emmanuel Macron teilnahm. Bereits damals titelten die Zeitungen „Wir wollen kein deutsches Europa“ (Cicero), „Macron ante portas“ (Tagespost) oder „Aufstand der Atomfreunde“ (FAZ). Die Zusammenarbeit der Visegrád-Länder mit Frankreich wurde damals intensiv geprobt und neben den Fragen der strategischen Souveränität Europas war und ist der Umgang mit der Atomkraft ein bestimmendes Thema dieses Formats. Damals ahnte noch keiner, dass mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine diese bestimmenden Themen eine noch größere Relevant entfalten sollten. Verteidigungsfähigkeit, Resilienz und Energiesicherheit sind die entscheidenden Schlagworte und bestimmen Ende 2022 die Agenda zu ungleich größeren Teilen als vor einem Jahr hätte antizipiert werden können. 

In weiten Teilen sehen die Vertreter der Visegrád-Länder diese Fragen sehr ähnlich wie Frankreich, sie setzen voll auf Atomkraft und sind sich mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron einig, dass dauerhaft die Energieversorgungssicherheit ohne Atomstrom nicht zu gewährleisten sei. In diesem zentralen Punkt deuteten sich schon damals gravierende Meinungsverschiedenheiten zur deutschen Position an, die sich seitdem nur noch verschärft haben dürften.

Am Silvestertag wurde das Regelwerk der Taxonomie der Europäischen Kommission bekannt, nach dem die Kernenergie als nachhaltig eingestuft wurde. Dem vorangegangen dürften intensive Verhandlungen der französischen Seite gewesen sein, denn ohne geschickte Lobbyarbeit hätte sich diese Regelung wohl kaum durchsetzen können. In dieser Frage kann Frankreich auf viele europäische Länder, aber nicht auf Deutschland und Österreich, zählen. Dass der Donnerschlag ausgerechnet pünktlich zum Amtsantritt der deutschen Ampelregierung erfolgt ist, verstärkt den Effekt und die Aufmerksamkeit dieser Politikgestaltung. Im Folgenden die deutsch-französische Meinungsverschiedenheiten in fünf Punkten. 

(1) Atomkraft

Die friedliche Nutzung der Kernenergie ist kaum bestreitbar der zentrale Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich. Während Frankreich voll auf Atomstrom setzt und hierfür auch massiv Bündnispartner sucht und findet, schlingert die deutsche Energiepolitik zwischen Ideologie, Illusion und Ideenlosigkeit. Noch immer glauben allen voran die Vertreter der grünen Regierungspartei, dass trotz Krieg und Energieknappheit der Atomausstieg nicht rückgängig gemacht werden sollte, während aber die Mehrheit der Deutschen einem Weiterbetrieb zustimmend gegenübersteht.

Während also die meisten Länder Europas eine realistische Sichtweise auf die Atomkraft haben und in neue Technologien und Anlagen investieren, ist in den Kreisen deutscher Entscheidungsträger die massive Atomangst nach wie vor vorhanden. Frankreich und die große Mehrheit Europas verfolgen hier einen gänzlich anderen Weg, die Diskrepanz wird vermittels der grünen Regierungsbeteiligung in Deutschland nun ganz offenbar und frappierend. 

(2) Rüstungspolitik

Auch in anderen Gebieten kulminierten die Meinungsverschiedenheiten, was zu einem auch für große Öffentlichkeit bemerkbaren Paukenschlag führte. Die für Ende Oktober geplanten deutsch-französischen Regierungskonsultationen wurden nämlich abgesagt, in vielen Fragen herrsche Abstimmungsbedarf, so das offizielle Kommuniqué. Neben den Energiefragen galten und gelten die verteidigungspolitischen Angelegenheiten als Bereich mit viel Konfliktpotential. Das 100 Milliarden Euro starke Sondervermögen für die Verbesserung der Wehrfähigkeit der Bundesrepublik sieht Beschaffungen bewährte US-amerikanischer Rüstungstechnik vor, während deutsch-französische Projekte in den Hintergrund rücken. 

(3) Flüssiggasleitungen 

In der Frage der auszubauenden Energieunion entluden sich die Spannungen am Widerstand Frankreichs gegen das einst von Frankreich und Deutschland mit großer Verve verfolgte Projekt der sog. Mid-Catalonia-Flüssiggasleitung von Spanien nach Frankreich. Stattdessen wird auf Betreiben der französischen Seite die unter dem Mittelmeer verlaufende Pipeline BarMar von Barcelona nach Marseille verfolgt. Diese Entscheidung dürfte als schlussendlicher Anlass für die Verstimmungen unmittelbar vor den geplanten Regierungskonsultationen gegolten haben. 

(4) „Doppelwumms“

Die Pläne der Bundesregierung, zur Abfederung gestiegener Energiekosten deutsche Unternehmen mit einem massiven 200 Milliarden Euro starken Energiepaket zu entlasten, sorgten nicht nur in Frankreich für Kopfschütteln. Während Frankreich und viele andere EU-Länder hierbei massiven Wettbewerbsverzerrungen befürchten, erkannten die sparsamen Länder Mittel- und Osteuropas in der 200 Milliarden teuren Gas- und Strompreisbremse des deutschen Staates nicht nur einen Markteingriff zugunsten der deutschen Seite, sondern auch die gefährliche Tendenz des Schuldenmachens. Mit Sorge wird dabei zur Kenntnis genommen, dass die einst so sparsamen Deutschen im Handumdrehen und ohne mit der Wimper zu zucken innerhalb eines halben Jahres zusätzliche 300 Milliarden Schulden aufnehmen, während die mühselig verhandelten „Corona-Gelder“ für alle EU-Länder und mehrere Jahre gerade einmal etwas mehr als das doppelte betragen. 

(5) Europäische Politische Gemeinschaft

Die Anfang Oktober 2022 erstmalig zusammengetretene Europäische Politische Gemeinschaft gilt eindeutig als Projekt von Emmanuel Macron. Dass die deutsche Bundesregierung nicht von dieser Idee einer weiteren paneuropäischen Organisation begeistert war, gilt als offenes Geheimnis. Viele fragen sich in der Tat, ob eine neue Organisationsform überhaupt etwas bringen könne, schließlich gebe es mit dem Europarat ein ähnliches und fast deckungsgleiches europäisches Instrumentarium. Sollte die Idee der Europäischen Politischen Gemeinschaft mit dem geplanten Gipfel in Moldawien weiterleben und sich konkretisieren, hätte Frankreich einen entscheidenden Punkt gemacht. 

Das deutsche Führungsvakuum

Auf einer gemeinsamen Veranstaltung von Cicero und Berliner Zeitung erklärte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán Anfang Oktober: „Mit Angela Merkel würde es den Krieg in der Ukraine nicht geben.“ In der Tat hinterlässt die große deutsche Bundeskanzlerin eine Lücke, die der Nachfolger erst noch füllen muss. Während die Ampelkoalition durch die sich teilweise überlappenden Migrations-, Corona- und Energiekrisen schlingert und erst ihr klares Profil und vor allem ihre Fähigkeit zur Krisenbewältigung finden muss, kann der französische Präsident mit ruhiger Hand auf seine Erfahrungen und Erfolge verweisen. Ein Schönheitsfehler seiner Politik ist lediglich die fehlende Mehrheit in der Assemblee Nationale.

Nichtsdestotrotz wird das deutsche Führungsvakuum in weiten Teilen Europas auch als solches vernommen und dies verheißt nichts Gutes. In diese Führungslosigkeit Deutschlands stieß der Krieg Russlands mit voller Wucht und legte diesen Zustand gnadenlos offen. Vielmehr noch erschien in diesem Licht auch die Ideen- und Führungslosigkeit unseres ganzen Kontinents. Riefen die Weltmächte früher bei Angela Merkel an, wenn es ernst wurde, stellt man sich heute die Frage, ob sie überhaupt noch anrufen und wenn ja, wen?

Auswirkungen auf Mittelosteuropa

„Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“ – diese Aussagen des damaligen polnischen Außenministers Radosław Sikorski aus dem November 2011 gelten heute unvermindert und geben treffend wieder, wie sich die Länder Ostmitteleuropas die Verantwortung des größten EU-Landes vorstellen. Ursprünglich auf die europäische Schuldenkrise bezogen, wurden die Aussagen Sikorskis zum geflügelten Wort und lassen sich auf die heutige Situation ummünzen. Deutsche Ohnmacht wird in Mittelosteuropa als besonders bedrohlich empfunden. Lange Zeit haben die Länder dieser Region auf Deutschland hinaufgeschaut, die Verantwortung Deutschlands und den Dialog auf Augenhöhe eingefordert. 

Sie demonstrierten mit ihren Erfahrungen, dass sie Solidität und Wachstum, Eigenverantwortung und solides Wirtschaften in den Vordergrund stellen, ein Modell, das auch für Deutschland attraktiv sein könnte. In den Fragen der ideellen Herkunft Europas und den europäischen Traditionen stehen diese Länder für das jüdisch-christliche Erbe und die Bewahrung des „European way of life“ wie wir ihn kennen und schätzen gelernt haben.

Durch ihre Diktaturerfahrung erkennen sie Gefahren präziser und wissen, was sie an einem freien Europa haben. Doch kam es bedauernswerterweise niemals zu einer starken Allianz Deutschlands mit den V4-Ländern oder mit Mittelosteuropa. Stattdessen setzte man auf den nunmehr stockenden deutsch-französischen Motor und alte Mechanismen. Heute besinnen sich die Mittelosteuropäer auf ihre eigenen Stärken und wissen, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können. Deutschland wurde nicht zum Motor der V4 und heute ist es auch nicht mehr Motor des Kontinents.

Fazit

Die Perspektiven, sich nicht mehr auf Deutschland verlassen zu können, sind prägend in Mittelosteuropa. Mit Sorge wird beobachtet, wie Deutschland seiner Führungsverantwortung nicht nachkommt und sich die deutsche Ampelkoalition an innenpolitischen Konfliktthemen abarbeitet. Die Position Deutschlands wird als geschwächt wahrgenommen und die aktuellen Konflikte im deutsch-französischen Verhältnis bestätigen diesen Trend zusätzlich. Die Hinwendung zu Frankreich ist in Fragen der strategischen Souveränität unausweichlich, hierfür hat Präsident Emmanuel Macron eine treffende Formel gefunden, um sich eigene Allianzen zu sichern. Die Herausforderungen im deutsch-französischen bilateralen Miteinander belegen wieder einmal mehr, dass Europa vor einem Führungsproblem steht. 

 

Foto: Mandiner /MTI/EPA/Christophe Petit Tesson