Aus der moralischen und völkerrechtlichen Perspektive liegt die Schuld und Täterschaft des Ukraine-Krieges allein bei Russland. Aus Sicht des geopolitischen Realismus hat jedoch der Westen durch die Infragestellung der russischen Selbstbehauptungsfähigkeit den Angriffskrieg Russlands provoziert und schwere Mitschuld in der Vorgeschichte des Krieges auf sich geladen.
Missbrauch der Ukraine als Mittel zur Eindämmung Russlands
Dem Krieg in der Ukraine ging ein fast zwanzigjähriger Konflikt über die Integration der Ukraine in den Westen voraus. Über das Veto Deutschlands und Frankreichs gegen eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato 2008 setzte sich die amerikanische Politik hinweg und betrieb bilateral eine faktische Integration der Ukraine unterhalb vertraglicher Ebenen.
Die amerikanische Politik ist am folgenreichsten für die Ukraine, die als Mittel zur Eindämmung Russlands missbraucht wurde. Damit war jene „Rote Linie“ überschritten, die zum – gleichwohl verbrecherischen – russischen Angriffskrieg geführt hat. Jedem Verbrechen liegen Motive zugrunde. Die Hauptmotive für den russischen Angriffskrieg liegen in der Angst vor einer zunehmenden Einkreisung durch die NATO und vor verkürzten Vorwarnzeiten für potentielle Raketenschläge aus der Ostukraine auf Moskau, wodurch die atomare Zweitschlagskapazität außer Kraft gesetzt und die Verteidigungsstrategie Russlands unterlaufen würde.
Einen Endsieg der Ukraine mögen wir uns im Herzen wünschen, aber mit dem Verstand können wir ihn nicht wollen. Russland ist die zweitstärkste Atommacht der Welt, und je erbärmlicher und erfolgloser die konventionelle russische Kriegsführung wütet, desto größer wird die Gefahr taktischer Atomschläge oder auch einer weitgehend konventionellen Zerstörung der Westukraine.
Eine Kapitulation Russlands in der Ukraine oder auch nur die Aufgabe der eroberten Territorien würde wiederum das Ende des russischen Imperiums einleiten. Wer dies fordert, hat den Boden geopolitischen und realistischen Denkens verlassen. Ein ukrainischer Endsieg würde wahrscheinlich zu einem Kollaps des Regimes in Moskau führen und – wie nach dem Zerfall Jugoslawiens – Diadochenkämpfe der Völker auf russischem Boden auslösen, nicht zuletzt um den Besitz der Atomwaffen.
Der russischen Führung wird niemand eine Ideologie vorhalten können, ihr wichtigstes Ziel ist ihre eigene Selbstbehauptung und damit auch die ihres Imperiums. Nachdem es Putin nicht einmal gelungen ist, Kiew zu erobern, stellt sich die These vom geplanten „Angriff auf Europa“ nicht mehr. Putin kann überhaupt kein offensiver Imperialist sein, der Europa bedroht, selbst wenn er es wollte. Er hat genug Mühe, das fragile russische Imperium zu erhalten.
Illusionen der Europäischen Union
Die Europäische Union „glaubt nicht an Einflusssphären“ (José Manuel Barroso), womit sie im Grunde die ganze Welt zu ihrer ideellen Einflusssphäre erklärt. Und nach längerem Zögern auch die Ukraine, obwohl diese weder zur EU noch zur Nato gehört. Während der Westen etwa im Falle Tibets, Hongkongs oder Transnistriens die realen Machtverhältnisse akzeptierte, zählt er die Ukraine zum Westen.
Es ist kein Geheimnis, dass die Maidan-Revolution dem Sturz der demokratisch gewählten, aber dem Westen zu indifferent gegenüberstehenden ukrainischen Regierung diente. Dieser Staatsstreich wurde von den europäischen Idealisten verziehen, weil er vorgeblich der Demokratisierung und Verwestlichung des Landes diente.
Die EU wurde auch gegründet, um ihre, zur Selbstbehauptung zu schwachen Nationalstaaten gemeinsam zu stärken. Dieser Plan ist jedenfalls außenpolitisch gescheitert. Die EU ist nicht einmal in der Lage, ihre Grenzen zu sichern und auch nicht, sich militärisch ohne die USA zu behaupten. Deshalb ist sie umgekehrt gezwungen, sich an den Kriegen der USA in aller Welt zu beteiligen.
Die Ukraine gilt dem Westen als Teil der „freien Welt“, obwohl es sich – wie in Russland – eher um eine Oligarchie handelt. Die Behandlung der russischen und ungarischen Minderheiten und das Verbot aller Oppositionsparteien bei Kriegsausbruch entspricht nicht dem Minderheitenschutz einer rechtsstaatlichen Demokratie. Im Weltkorruptionsindex findet sich die Ukraine nicht in der westlichen, sondern inmitten der afrikanischen Welt.
Ungarn zwischen Neutralität und Bündnistreue
Ungarn verhält sich faktisch im Ukraine-Krieg neutral, ohne dabei die Bündnissolidarität in Abrede zu stellen. Als Nachbarland kennen die Ungarn die Ukraine genug, um Parolen, hier verteidige der Westen seine Freiheit, nicht auf den Leim zu gehen. Allein schon die schlechte Behandlung der ungarischen Minderheit in der Ukraine sei ein Beleg dafür, dass die Ukraine nicht mit einer rechtsstaatlichen Demokratie verglichen werden könne.
Darüber hat sich Ungarn nächst der EU auch in der Nato isoliert. Um dies durchzuhalten braucht man ein gutes Selbstbewusstsein, welches den Ungarn aus ihrer geschichtlichen Rolle, immer von Imperien bedroht gewesen zu sein, erwachsen ist. Die Regierung Orbán ist davon überzeugt, dass ihrem Modell von einem Europa souveräner Nationalstaaten die Zukunft gehört.
Der Brüsseler Zentralismus und der Weg zu einer offensiven Nato seien irrig. Die Ungarn wollen dagegen dazu beitragen, die EU zu dezentralisieren und die Nato von einem offensiven wieder zu einem defensiven Akteur zu transformieren. Ungarn will Teil eines defensiven Westens sein, das heißt mit autoritären Weltmächten wie Russland und China politisch koexistieren und wirtschaftlich kooperieren.
Die Ukraine in einer multipolaren Weltordnung
Mit der Entneutralisierung der Ukraine ist die Chance auf eine eurasische Kooperation zerstört worden. Dabei wäre die Neutralität der Ukraine auch aus innenpolitischen Gründen von überragender Bedeutung gewesen, denn in diesem Land treffen westeuropäisch und osteuropäisch geprägte Kulturen unmittelbar aufeinander.
Auf dieser Drehscheibe der eurasischen Landmasse hätte daher alles getan werden müssen, durch eine Föderalisierung bis hin zur Autonomisierung anders geprägter Regionen – wie der russischen im Osten oder ungarischen im Westen – den neutralen Status nach außen von innen her auszugestalten.
Da dies heute nicht mehr möglich ist, bleibt – in Analogie zu Korea, Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Zypern und Deutschland – nur noch die Scheidung zwischen der Ost- und der Westukraine. Die Ostdeutschen konnten 40 Jahre lang nicht verlangen, dass für ihre Freiheit ein Dritter Weltkrieg riskiert wird. Auch die Ukrainer werden die Teilung ihres Landes in Kauf nehmen müssen.
Auf der internationalen Ebene könnte sich aus den Trümmern der Illusionen ein neuer Minimalkonsens abzeichnen. Keiner der Akteure in der Ukraine hat seine Ziele erreicht: Russlands Angriff hat im Ergebnis den Zusammenhalt der zuvor als „hirntod“ geltenden Nato gestärkt. Die Vereinigten Staaten scheinen dennoch auch diesen Krieg nicht gewinnen zu können und müssen sich mit dem westlichen Teil der Ukraine als Bündnispartner zufrieden geben.
Die USA haben zwar eine engere eurasische Kooperation zwischen Russland und Europa unterbunden, dafür aber eine umso engere Kooperation zwischen Russland und China, dem Iran oder auch Indien auf den Weg gebracht. Moskau ist als geostrategischer Rivale aus Europa verdrängt. Dafür entsteht ein gewaltiges, neues Bündnissystem, einstweilen ohne den Westen und womöglich sogar gegen ihn. Die Herausbildung einer multipolaren Weltordnung beschleunigt sich durch die kompromisslose, harte Haltung des Westens gegenüber Russland und seinen Verbündeten wesentlich.
Abstiegskampf mit oder Scheidung von den USA?
Der EU bleibt nur eine JuniorRolle mit den USA, die einem alten Kontinent nicht gut zu Gesicht steht. Sollte sie sich doch noch zu einer eigenen Rolle durchringen, käme darüber die „atlantische Wertegemeinschaft“ zumindest militärisch an ihr Ende. Der EU ist es bisher nicht gelungen, der Weltherrschaftspolitik der USA eine eigene Strategie und Teilhabe an einer multipolaren Weltordnung entgegenzustellen. Dafür müsste sich Europa von den USA emanzipieren. Letztlich wäre vielleicht sogar die Scheidung unvermeidlich, es sei denn, die Amerikaner entschließen sich, selbst von einer unipolaren Weltordnung und ihrem „American Exceptionalism“ Abstand zu nehmen.
Auf dieser Grundlage könnte der Aufbau einer neuen multipolaren Weltordnung beginnen, in der der Westen mit Russland wie mit einer Vielzahl anderer autoritärer und sogar totalitärer Mächte in Koexistenz leben müsste.
In ihr dürfte die Selbstbehauptung der Kulturen und Mächte nicht mehr durch Ausdehnungen und Vorfeldsicherungen, sondern durch eine Politik der Selbstbegrenzung und Koexistenz erfolgen. Die politische und kulturelle Koexistenz wäre die Basis für eine wirtschaftliche und technische Konnektivität über die Blöcke hinweg.
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