Bevor Russland die Ukraine angriff, war die sicherste Antwort auf die Frage nach der Lebensdauer von Deutschlands Ampel-Koalition: entweder zwei Jahre – oder zwei Wahlperioden. Das meinte: Entweder zerbricht die Ampel-Koalition nach einer Anfangszeit mit sehr wohlmeinender Medienberichterstattung an ihren inneren Widersprüchen; oder es raufen sich die Koalitionspartner inhaltlich soweit zusammen, so dass ein etablierter SPD-Kanzler den nächsten Bundestagswahlkampf gewinnen kann.
Doch ob sich eine Entwicklung vorhersagen lässt, hängt von der Stetigkeit ihres Kurses und von der Stabilität ihrer Rahmenbedingungen ab. Die aber haben sich seit Russlands Kriegsbeginn sehr verändert. Obendrein reagierten die drei Koalitionsparteien auf den Krieg in der Ukraine mit steilen Lernkurven. Unter dem Schock des Kriegsbeginns wurden Positionen aufgegeben, die einst als unverrückbar galten. Das betraf vor allem die Außen-, Militär- und Energiepolitik. Die mangelhafte Passung des dazu im Koalitionsvertrag Festgelegten zu Deutschlands wirklichen Herausforderungen wäre bei weiterhin normalen Umständen zwar quälend gewesen, hätte sich aber missvergnügt aushalten lassen. Nun allerdings hat sich die Bundesregierung durch dramatische Kurswechsel Handlungsspielräume verschafft, innerhalb welcher sie einen wirklichkeitsnäheren Kurs einschlagen und sogar auf die grundsätzliche Unterstützung der Opposition zählen kann. Inzwischen hat sich das auch demoskopisch in wachsenden Unterstützungszahlen für die Koalition und für ihr Spitzenpersonal ausgewirkt,
Sorgen sich müssen sich Kanzler und Vizekanzler eher darüber machen, wie lange die SPD und die Grünen jene so kurzfristig geänderten Politiken wohl mittragen werden, sobald der Krieg in der Ukraine erstarrt oder vorüber ist.
Denn beide Parteien waren regelrecht überfahren worden, als am 27. Februar von oben herab eine völlige Preisgabe bisheriger Positionen verkündet wurde – so, wie einst die Union bei Angela Merkels Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Sollte der Krieg in der Ukraine in absehbarer Zeit mit einer gesichtswahrenden russischen Niederlage enden oder mit einem baldigen russischen Sieg, dann wird sich Partei- und Fraktionssolidarität sichern lassen. Entweder wird das Argument sein, man habe durch eine erneut realistische Außenpolitik eine Aggression zum Scheitern gebracht, oder es wird zum Appell kommen, dem auftrumpfenden Aggressor weiterhin entgegenzutreten. Doch falls sich ein längerer Guerillakrieg von Ukrainern gegen russische Besatzer einstellen sollte, wird – vor allem, doch nicht nur – bei SPD und Grünen die Stimmung um sich greifen, nun müsse man neue Mittel finden. Die aber wird man in einer Neuauflage von Appeasement-Politik suchen: die Russen gälte es zu besänftigen, damit sie an uneinsichtigen Ukrainern keine allzu üble Rache nähmen, und den Ukrainern wäre klarzumachen, dass sie sich mit Niederlage und russischer Herrschaft besser abfänden.
Außerhalb von Deutschland begreift man wohl gar nicht, wie tiefgreifend der unlängst von Bundeskanzler Scholz vor dem Bundestag verkündete außenpolitische Kurswechsel Deutschlands ist. Jahrzehntelang wollte dieses Land nichts anderes sein als eine Zivilmacht, ein sich willig in internationale Strukturen einbettender Handelsstaat, ohne alle Lust an Militär, dafür mit großer Freude am moralischen Glänzen. Entlang dieser Leitideen war es jahrzehntelang ein Glaubenssatz deutscher Außenpolitik, niemals dürfe man Waffen in Spannungsgebiete liefern – während zugleich Deutschland eben doch der viertgrößte Waffenexporteur hinter den USA, Russland und Frankreich war. Nun aber schickt Deutschland Waffen sogar in ein Kriegsgebiet und schämt sich sogar, anfangs nicht mehr als 5000 Schutzhelme zugesagt zu haben. Feste Überzeugung war es zumal bei Sozialdemokraten, dass die Bundeswehr ohnehin zu viel Geld verschlinge, und dass Deutschlands Armee solches Gerät besser gar nicht bekommen solle, das – wie etwa Kampfdrohnen – zu einer wirkungsvollen Kriegführung taugt. Doch dann versprach der Bundeskanzler der Armee ein Sondervermögen von nicht weniger als 100 Milliarden Euro, und zwar ohne jede Debatte über geeignete Geldquellen.
Gerade noch hatte die Grüne Außenministerin erklärt, sie wolle eine ganz friedliche und wertebasierte Außenpolitik betreiben.
Nun aber entdeckt sie, einen wie großen Wert die Bereitschaft und Fähigkeit eines Landes zu gerade solcher Selbstverteidigung hat, bei der man gegnerische Soldaten tötet. Jahrelang hatte man in Deutschland parteiübergreifend behauptet, der Import russischen Erdgases oder Treibstoffes finanziere weder Russlands Aufrüstung noch mache er Europas größte Wirtschaftsmacht von Russland abhängig, denn es handele sich um nicht mehr als um ein Wirtschaftsprojekt zum gegenseitigen Nutzen. Jetzt aber will man Russland durch die Aussetzung von Energiegeschäften bestrafen und versuchen, die dann unweigerlich steigenden Energiepreise als ein Solidaritätsopfer für die Ukraine zu empfinden. Bald wird wohl auch noch erwogen werden, zur Beschaffung von „Brückenenergie“ die Laufzeit der – von den Grünen jahrzehntelang verteufelten – Atomkraftwerke eben doch wieder zu verlängern. Und an Angela Merkels Regierung hatte man allgemein gelobt, dass die damalige Kanzlerin alle Krisen durch Verhandlungen soweit kleinarbeite, dass die sich entschärfen ließen. Doch jetzt entdeckt sogar der etablierte Journalismus, dass sich der russische Angriff auf die Ukraine ganz wesentlich auch Merkelscher Problemvertagung verdankt.
Über alle jene tiefgreifenden Veränderungen deutscher Außenpolitik hat es bislang in Deutschland keine breite, systematische Diskussion gegeben. Die einen verfielen bei der Bundestagsrede von Kanzler Scholz in Schockstarre, die anderen machten sich an stehende Ovationen – teils so, wie Angsthasen im dunklen Wald laut pfeifen, und teils triumphierend über spätes Rechtbekommen. Doch Legitimation, also die Geltung von Politik und von konkret ausgeübter politischer Herrschaft als rechtens, entsteht nun einmal nur aus Kommunikation, d.h. aus öffentlichen Debatten mit breiter Beteiligung. Sobald es dazu kommt, wird eine Auseinandersetzung mit bisherigen politischen Glaubensgrundsätzen ebenso unvermeidlich werden wie eine kritische Stellungnahme zu den Früchten von Angela Merkels langer Kanzlerschaft.
Die Union könnte dabei aus ihrer bisherigen Jasager-Roller gegenüber Angela Merkel heraustreten. Sie gelangte dann sogar zu einer besonders wirkungsvollen Oppositionshaltung, weil Merkels Sicherheits- und Energiepolitik genau jenen Politikvorstellungen von Grünen und SPD entsprach, von denen sich der Ampel-Kanzler nun so brüsk abwandte. Je mehr Grüne und Sozialdemokraten dann den einstigen Kurs von Angela Merkel verteidigen, um so mehr politischen Nutzen hätte die Union davon, sich selbstkritisch von den Erblasten der vormals nibelungentreu unterstützten Kanzlerin zu befreien.
Überzeugte hingegen der Kanzler bei seinen Korrekturen von Merkels Politik, und zwar unter Inkaufnahme von Konflikten mit den Linken bei SPD und Grünen, so könnte er bis weit hinein in die Reihen von Unionswählern populär werden.
Und die FDP? Sie muss ihre Rolle erst noch finden. Steigende Energiepreise werden jetzt nämlich dauerhaft Wohlstandsgewinne aufzehren, die erforderlichen Investitionen für Energiewende und veränderte Sicherheitspolitik mit den – durch neue Flüchtlingsströme nochmals gesteigerten – Kosten des deutschen Sozialstaats konkurrieren, und die absehbare Inflation in der Eurozone wird die bisherigen Stabilitätsversprechen wie mutwillige Täuschungen aussehen lassen. Und wenn AfD und Linkspartei samt den Linken bei SPD und Grünen den verkündeten Kurswechsel des Kanzlers politisch doch noch verunmöglichen? Dann wäre das schlecht für Deutschland – und alsbald auch schlecht für die Partei, die den Kanzler stellt. Doch ob derlei Koalitions- und Regierungskrisen schon während der kommenden zwei Jahre oder erst hin zum Ende der nächsten Wahlperiode die Leuchtkraft der Ampelkoalition dimmen werden: Das lässt sich wirklich noch nicht absehen.