Am 18. März war die von Olaf Scholz geführte Bundesregierung die ersten 100 Tage im Amt. Die Ampelkoalition hatte die Regierungstätigkeit mit einem ambitionierten Programm aufgenommen und dabei einen besonderen Fokus auf die Energiepolitik und Energiewende gelegt. Das ehrgeizige Ziel der geplanten Energiewende wird jedoch durch die jüngsten geopolitischen Entwicklungen, die globale Energiekrise und den sich zunehmend zuspitzenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine gefährdet.

In letzter Zeit war häufig von der deutschen Ablehnung der Atomkraft zu lesen, doch worin ist diese Abneigung begründet? Offensichtlich ist, dass die deutsche Politik ein hohes Maß an politischem und wirtschaftlichem Einfluss in Mitteleuropa hat. Daher liegt es im Eigeninteresse der mitteleuropäischen Politik, die deutschen Standpunkte und Positionen zu verstehen, besonders bei einem so bedeutsamen Feld wie der Energiepolitik. Dies gilt insbesondere in Zeiten einer kriegerischen Auseinandersetzung, in dessen Folge die europäischen oder deutschen Entscheidungen die Energieversorgung des ganzen Kontinents gefährden könnten.

Wir wollten diese Prozesse daher tiefergehend verstehen. So hat das Deutsch-Ungarische Institut zusammen mit dem Klimapolitischen Institut des Mathias Corvinus Collegiums Hintergrundgespräche mit mehreren wichtigen Instituten organisiert, die aktiv an der Gestaltung der deutschen Klima- und Energiepolitik beteiligt sind. Im Zuge dieser Gespräche wurden führende Repräsentanten der Agenda 2030, wie das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PKI), der Rat für nachhaltige Entwicklung (RNE), das Ecologic Institute, das Zentrum Liberale Moderne, das Clean Energy Wired und die Sektion für Nachhaltigkeit der Konrad-Adenauer-Stiftung gebeten, die Zusammenhänge der Veränderungen zu beleuchten. Aus verständlichen Gründen können die Hintergrundgespräche nur in anonymisierter Form veröffentlicht werden.

Bedauerlicherweise haben die Gespräche das Bild bestärkt, das man sich auch hierzulande in Ungarn beim Studium der politischen Abläufe der vergangenen Jahrzehnte machen konnte: die Entscheidungen in der deutschen Energiepolitik waren nicht im Geringsten von besonnenen und sachlichen Argumenten, sondern vielmehr von verbohrten ideologischen Überzeugungen, irrationalen Vorstellungen und Frustrationen geleitet. Die deutschen Experten haben übereinstimmend darauf hingewiesen, dass die Ablehnung der Kernkraft proportional mit der politischen Stärke der Grünen zugenommen hat. Bei etlichen Gesprächen wurde erwähnt, dass die „Ablehnung der Kernkraft in der DNA der Grünen festgeschrieben“ sei, weil bei der Parteigründung 1980 die Anti-Atom-Bewegung den Kern der Grünen bildete. Zusätzlich wurde dieses Phänomen auch dadurch verstärkt, dass die Ablehnung der Kernkraft von Anfang an zutiefst mit dem Thema des Umweltschutzes verbunden war, denn selbst die Gründung des Bundesumweltministeriums war durch die Kopflosigkeit des deutschen Staates im Angesicht der Katastrophe von Tschernobyl erzwungen worden.

Die Bedenken hinsichtlich der Nutzung von Atomkraft sind in der bundesdeutschen Gesellschaft derart tief verankert, dass in der deutschen Sprache ein eigener Begriff dafür entstanden ist: die „Atomangst“, die Furcht vor der Kernkraft. Selbst die Experten waren sich nicht einig, woher diese Angst kommen mag. Eine Erklärung besagt, dass die Katastrophe von Tschernobyl verdeutlicht hat, dass selbst eine Kraftwerkskatastrophe am anderen Ende der Welt eine Gefahr darstellen kann, von der selbst die Regierungen die Bevölkerung nicht beschützen können. Einer anderen Erklärung nach hängt die Ablehnung der Kernkraft mit der Entstehung von Atommüll zusammen. Demnach wurden Atomkraftwerke von den deutschen Umweltbewegungen selbst vor Tschernobyl abgelehnt, da abgebrannte Brennstäbe und andere strahlende Abfälle auf unabsehbare Zeit gelagert werden müssten, wobei keine Gesellschaftsform in der Lage ist, irgendwelche Sicherheiten für die dauerhafte Wahrnehmung dieser Aufgabe zu geben. Einem drittem Ansatz nach wurzelt die Ablehnung der Kerntechnik in den pazifistischen Bewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg, denen es vor der Atomtechnik und der damit verbundenen konstanten Bedrohung des Atomkrieges im Kalten Krieg und dem nuklearen Winter graute. Dieses Gefühl war in Deutschland besonders stark, weil das Land im wahrsten Sinne des Wortes durch den Kalten Krieg entzweit war und die Menschen dadurch vielmehr den Eindruck hatten, dass die Atomsprengköpfe auf sie gerichtet waren.

Einer der Gesprächspartner hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Gesellschaft in der Bundesrepublik nicht nur in Bezug auf die Gräueltaten des Nationalsozialismus ein bis ins Mark gehendes Schuldbewusstsein entwickelt hat, sondern zum Teil auch denkt, dass die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki auch auf Berlin hätten abgeworfen werden können. Diese Entwicklungen mögen wohl insgesamt dazu geführt haben, dass die Gesellschaft in der Bundesrepublik mehrheitlich nichts von der Kernkraft wissen will.

Der Rest ist Geschichte. Der erste Wendepunkt kam mit dem „Atomkonsens“, den die 1998 gewählte sozialdemokratische Bundesregierung unter Gerhard Schröder erzielt hatte. Diese Vereinbarung zwischen der politischen Elite Deutschlands und den großen Energieversorgern besagte, dass keine neuen Kernkraftwerke gebaut werden dürfen und laufende AKWs spätestens 2022 stillgelegt werden müssen. Gegen die Schließung der ersten Atomkraftwerke (2003 und 2005) hat die CDU und ihre Parteivorsitzende Angela Merkel noch heftig protestiert und diesen Schritt sogar als „Vernichtung nationalen Eigentums“ bezeichnet. Als 2009 die CDU/CSU in der Koalition mit der FDP die Bundestagswahlen gewonnen hatte, wurde die AKW-Stilllegungspolitik der SPD ausgesetzt und außerdem die Laufzeit sämtlicher, damals noch betriebener Kernkraftwerke verlängert. Diesen Schritt haben Analysten ein wenig scherzhaft als „Ausstieg aus dem (Atom-)Ausstieg“ bezeichnet.

Am 11. März 2011 wurde das Kernkraftwerk im japanischen Fukushima durch einen Tsunami beschädigt; am 27. März wurde in Baden-Württemberg der Landtag gewählt. Dieses Unglück hatte zwar keine direkten Todesopfer durch den Nuklearunfall gefordert, jedoch haben die grünen Kernkraftgegner die Opfer des Tsunami mit dem Unfall im Kernkraftwerk verwischt. Diese Wahlkampfstrategie bewährte sich: nach 58 Jahren an der Landesregierung konnte die CDU mit 39 Prozent der Stimmen noch immer die meisten Stimmen auf sich vereinen, unterlag jedoch bei der Regierungsbildung schlussendlich einer Koalition von Grünen und Sozialdemokraten. Die Grünen wurden bei dieser entscheidenden Landtagswahl zur zweitstärksten Kraft und fuhren mit 24 Prozent ihr bestes Ergebnis in Baden-Württemberg ein. Dadurch wurde in der traditionell konservativen Hochburg Baden-Württemberg der erste grüne Ministerpräsident der Geschichte gewählt.

An jenem Tag bekam die Partei von Angela Merkel eine schallende Ohrfeige der Wählerschaft. Die weitreichenden Schlussfolgerungen hatte Angela Merkel jedoch bereits selbst, wenige Tage nach Fukushima und zwei Wochen vor der Wahl, vorhergesehen. Daher hat die Bundesregierung bereits im Juni 2011 die endgültige Stilllegung von acht Kernkraftwerken angeregt und die Betriebsdauer der restlichen neun AKWs, wie von der Schröder-Regierung vorgesehen, bis 2022 begrenzen wollen. Die deutsche Politik hat den Wechsel der politischen Windrichtung gespürt und volle Geschlossenheit demonstriert: der Gesetzantrag wurde im Bundestag von 80 Prozent der Abgeordneten verabschiedet. Nur die Linkspartei protestierte gegen den Beschluss und meinte, dass noch radikalere Schritte notwendig seien. Viele Analysten sind ohnehin der Ansicht, dass die Erfüllung der vermeintlichen oder tatsächlichen linken Erwartungshaltung der Gesellschaft das Wesensmerkmal der merkelschen Politik gewesen sei. Bei dieser asymmetrischen Demobilisierung ging es genau darum, grüne und linksliberale Forderungen durch die CDU selbst umzusetzen, um den politischen Gegner in eine tödliche Umarmung zu nehmen. Nun, die Beispiele der Kernkraft und Baden-Württembergs zeigen, dass diese Idee nicht immer funktioniert hat und die CDU im Gegenteil ihre Glaubwürdigkeit als Volkspartei, ihre Identität und viele ihrer Unterstützer gekostet hat.

Die Experten sind sich jedoch bei Weitem nicht so einig. Aus den Hintergrundgesprächen ging hervor, dass der Atomausstieg – noch vor dem Kohleverzicht in der Stromerzeugung – von den meisten Analysten als verfehlt und als eine auf rein ideologischer Basis getroffene Entscheidung angesehen wird. Noch weniger konsequent scheint die Entscheidung zu sein, dass während der Regierungszeit der auch als „Klimakanzlerin“ bezeichneten Angela Merkel die emissionsschwachen AKW-Kapazitäten mit den emissionsstärksten Kohlekraftwerken ersetzt wurden. In der Folge war die Bundesrepublik unter anderem gezwungen, die Stromimporte aus französischen und belgischen Kernkraftwerken zu erhöhen.

Über diesen ideologischen Hintergrund hinaus haben die Gesprächspartner darauf hingewiesen, dass die SPD, die 1998 an die Macht kam und als erste Partei die Stilllegung der Kernkraftwerke beschlossen hatte, traditionell eine „Partei der Kohlebergleute“ ist. Um die Jahrtausendwende, als die Klimapolitik die Bundespolitik noch nicht so beeinflusst hatte wie heute, sollten die wegfallenden AKW-Kapazitäten nach dem ursprünglichen Konzept der Schröder-Regierung durch Kohlekraftwerke ersetzt werden. Die Pläne haben sich seitdem geändert, heute sollen erneuerbare Energieträger statt Kohlekraftwerke als Ersatz herhalten. Die Kontroverse hat dazu geführt, dass in den vergangenen mehr als zwei Jahrzehnten die Energieerzeugung aus erneuerbaren Energien eine explosionsartige Entwicklung hinter sich gelegt hat. Allerdings sind die wetterabhängigen Energieträger allein immer noch nicht in der Lage, den Bedarf der Industrie und der privaten Haushalte zu decken.

Nach offizieller Lesart sollen in Deutschland fossile Energieträger nur übergangsweise als Ersatz herhalten. Vor kurzem ist die deutsche Praxis allerdings auf die harte Wirklichkeit des Krieges zwischen Russland und der Ukraine und die dadurch verschärfte globale Energiekrise gestoßen. Infolge der Krise haben Bundeskanzler Olaf Scholz und sogar der grüne Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck kurzzeitig die Möglichkeit einer Laufzeitverlängerung der noch betriebenen Atomkraftwerke ins Gespräch gebracht und der konservative Friedrich Merz erklärte, dass man „für sämtliche Energieträger offen sein“ müsse.

Wohlüberlegt zu handeln ist daher von besonders hohem Wert, vor allem in Kriegszeiten. Deutschland kann als führende Wirtschaftsmacht Europas die aktuelle Lage für die Länder auf dem Kontinent durch seine Entscheidungen sowohl erleichtern als auch erschweren. Vorerst müssen wir jedoch sorgenvoll nach Westen blicken. Als Antwort auf den russischen Angriff auf die Ukraine hat Olaf Scholz am 22. Februar 2022 angekündigt, das Zulassungsverfahren von North Stream 2 in Deutschland auszusetzen. Die Zwillingspipeline mit einer Kapazität von 55 Milliarden Kubikmetern Erdgas pro Jahr wurde schon im Herbst 2021 technisch fertiggestellt und durch Russland bereits mit Erdgas befüllt, allerdings hat sich das Genehmigungsverfahren in die Länge gezogen. Am 2. März hat der Eigentümer von North Stream 2 schließlich Konkurs angemeldet.

Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck haben bei ihrer gemeinsamen Pressekonferenz noch am gleichen Tag angekündigt, dass für den schlimmsten Fall – sollten die Gasspeicher in Deutschland völlig versiegen – man sich auf die Einstellung der Gasversorgung von Industriekunden vorbereiten müsse. Den Bedarf der privaten Haushalte könnte man in einem solchen Fall durch eine bessere Ausnutzung der Pipeline-Kapazitäten aus Norwegen, Nordafrika und Aserbaidschan, sowie durch die Aufstockung der Flüssiggas-Lieferungen (LNG) aus den USA abdecken. Der Sprecher des deutschen Wirtschaftsministeriums hat noch am selben Tag angekündigt, dass Deutschland nicht-russisches LNG für 1,5 Milliarden Euro kaufen wolle, allerdings ist nicht bekannt durch wen man die wegfallenden Mengen ersetzen will. Katar hat bereits signalisiert, derzeit kein zusätzliches Erdgas für Deutschland bereitstellen zu können, weil sämtliche Kapazitäten ausgeschöpft seien.

Robert Habeck erklärte im Interview mit der FAZ, dass man daran arbeite, Deutschland bis zum Herbst von russischer Kohle und zum Jahresende auch von russischem Öl unabhängig zu machen. Die Reduzierung der Abhängigkeit von Erdgasimporten sei schwieriger, weil Deutschland über keine Infrastruktur für die Einfuhr des Ersatzes in Form von LNG verfügt – ihr Ausbau kann noch Jahre dauern.

Die Europäische Kommission hat angekündigt, die Einfuhr von russischem Erdgas in die EU bis Ende 2022 um zwei Drittel zu reduzieren und die Umstellung auf erneuerbare Energieträger zu beschleunigen. Analysten gehen jedoch davon aus, dass eine derart hohe Reduzierung der Erdgasimporte auch dann schwer umsetzbar wäre, wenn auf dem Markt ausreichende Mengen an LNG als Ersatz zur Verfügung stünden. Außerdem darf man nicht unberücksichtigt lassen, dass Russland auch während der Abnabelung nach wie vor in der Lage sein dürfte, die Energiepreise in Europa zu bestimmen. Russland könnte auf einen solchen Schritt mit einer Preiserhöhung reagieren.

Der Kapazitätsausbau bei den erneuerbaren Energieträgern hingegen geht in der Europäischen Union unvermindert im rasanten Tempo weiter, zeitgleich steigt auch die Bedeutung der leicht regelbaren Aushilfskapazitäten. Dabei handelt es sich um erdgasbefeuerte Kraftwerke, die schnell hoch- und heruntergeregelt werden können und damit zum Ausgleich der wetterabhängigen Erzeugungskapazitäten beitragen können. Das heißt, mit der Reduzierung von Gasimporten aus Russland und der Erhöhung des erneuerbaren Anteils müssten die LNG-Importe ebenfalls erhöht werden. Wichtig ist auch zu erkennen, dass der Marktpreis für LNG erheblich höher ist als der russische Erdgaspreis, somit wäre eine Umstellung mit einer erheblichen Kostensteigerung verbunden. Und da ist der kostspielige Bau der LNG-Terminals noch nicht miteingerechnet.

Die Europäische Kommission hat am 12. März das sechste Sanktionspaket gegen Russland vorgestellt, wobei vorerst keine Sanktionen für Erdgas- und Öllieferungen oder die Nuklearindustrie vorgesehen sind. Erklärungen amerikanischer und europäischer Politiker über mögliche Sanktionen auf Energielieferungen haben die Energiepreise auch ohne jegliche Lieferengpässe auf ein Mehrfaches hochschnellen lassen. Ungarn hat eindeutig klargestellt, dass nur solche Sanktionspakete akzeptabel seien, die zu keinem Risiko in der Versorgungssicherheit führen. Eine Aussetzung russischer Energielieferungen kommt daher gar nicht erst in Frage. Vorerst hat sich auch Deutschland von europäischen Sanktionen für Energieimporte enthalten. Wir hoffen, dass die Bundesrepublik diesmal an der rationalen Entscheidung festhalten wird.

Máté Litkei ist Direktor des Klimapolitischen Institutes am MCC, Bence Bauer ist Direktor des Deutsch-Ungarischen Institutes am MCC.