Ungarns Staatspräsidentin Katalin Novák (46) und die ehemalige Justizministerin Judit Varga (43) treten als Reaktion auf die Proteste gegen eine umstrittene Begnadigung vom letzten Jahr von allen politischen Ämtern zurück.
Am Samstag, 10. Februar 2024 frühabends um 17.30 Uhr erklärte die Staatspräsidentin von Ungarn, Katalin Novák via Fernsehansprache ihren Rücktritt vom Amt des Staatspräsidenten. Als Gründe führte sie die Diskussionen rund um die Begnadigung eines Mannes, der sich der versuchten Beihilfe zur Nötigung von minderjährigen Opfern eines Missbrauchsfalles strafbar machte, an. Sie erklärte, einen Fehler gemacht zu haben, entschuldigte sich für diesen und zog mit ihrem Rücktritt die Konsequenzen. Judit Varga, die seinerzeit als Justizministerin die Begnadigung gegenzeichnete, trat zur gleichen Zeit von ihrem Mandat als Abgeordnete der Ungarischen Nationalversammlung und dem Vorsitz des Ausschusses für Europäische Angelegenheiten zurück. Zudem verzichtete sie auf die Kandidatur bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, die sie als Spitzenkandidatin von Fidesz-KDNP bestreiten sollte. Die beiden Rücktritte stellen eine große Zäsur in der politischen Landschaft des Landes dar.
Der Begnadigungsfall
Im Jahr 2019 wurde der Leiter des Waisenhauses von Bicske, János V., wegen des sexuellen Missbrauchs von minderjährigen männlichen Schutzbefohlenen in zehn Fällen zwischen den Jahren 2004 und 2016 zu acht Jahren Haftstrafe verurteilt. Sein Stellvertreter, Endre K., wurde zu drei Jahren und vier Monaten Haftstrafe verurteilt, weil er mindestens in einem Fall den Waisenhausleiter dabei unterstützt haben soll, eines der Opfer dahingehend zu erpressen, die Aussage zu widerrufen. Die Erpressung blieb erfolglos, das Opfer blieb bei seiner Aussage und der Heimleiter wurde verurteilt. Endre K. trat im November 2021 seine Haftstrafe an und wechselte Anfang des Jahres 2023 in den offenen Vollzug. Das Gerichtsurteil sah seinerzeit nicht nur eine Haftstrafe vor, sondern auch ein Berufsverbot für fünf Jahre und das Verbot des Führens öffentlicher Angelegenheiten für vier Jahre. Letzteres besagt, dass dem Verurteilten beispielsweise das Wahlrecht aberkannt wird, er keine öffentlichen Ämter ausüben darf und auch keine staatlichen Auszeichnungen bekommen darf. Im Jahre 2022 wurde Medienberichten zufolge von der Ehefrau von K. ein Gnadengesucht eingereicht, dem die Staatspräsidentin am 27. April 2023 im Vorfeld des Papstbesuches stattgab. Zu jener Zeit blieben nur noch einige Monate des offenen Vollzugs. Parallel hierzu prozessierte K. in dritter Instanz gegen das Gerichtsurteil weiter, wodurch die erfolgte Begnadigung überhaupt erst Anfang Februar 2024 bekannt wurde. Die Begnadigung sah vor, dass die verbleibende Reststrafe in eine fünfjährige Bewährung umgewandelt wurde sowie dass das Berufsverbot und das Verbot des Führens öffentlicher Angelegenheiten ausgesetzt wurden.
Reaktionen auf den Begnadigungsfall
Unmittelbar nach Bekanntwerden der Begnadigung erklärte eines der Missbrauchsopfer öffentlich, die Staatspräsidentin solle sich schämen. Alle Oppositionsparteien forderten Katalin Novák zum Rücktritt auf. Die liberale Partei Momentum organisierte für den 9. Februar und 10. Februar Demonstrationen vor dem Amtssitz des Staatspräsidenten. Am 8. Februar erklärte Ministerpräsident Viktor Orbán, eine Grundgesetzänderung einreichen zu wollen, wonach Begnadigungen von Verurteilten unzulässig seien, die sich zum Nachteil von Minderjährigen schuldig gemacht haben. Die ersten Reaktionen der Staatspräsidentin überzeugten die Kritiker nicht, denn sie wies zunächst nur auf den juristisch korrekten Umstand hin, wonach Begnadigungen nicht zu begründen seien. Eine Rücknahme der Begnadigung ist rechtlich allerdings nicht möglich. Im Gefolge der immer breiter schwelenden Angelegenheit erklärten mehrere Berater der Staatspräsidentin den Rücktritt von ihren Posten. Der regierungsnahe Journalist Zsolt Bayer forderte Novák auf, sich schnellstmöglich öffentlich zu erklären. Das Schweigen der Staatspräsidentin bis in die frühen Abendstunden des 10. Februar zeugte von einer verbesserungswürdigen Krisenkommunikation.
Noch am Donnerstag verreiste das Staatsoberhaupt zu einer offiziellen Auslandsreise nach Katar. Von dort am Samstagmittag zurückgekehrt, eilte sie zu ihrem Amtssitz, um die wenig später ausgestrahlte Rücktrittserklärung zu verfassen.
Rücktritt als Ultima Ratio
Unter dem Druck von Öffentlichkeit und Opposition, aber auch aus den eigenen Reihen, blieb für Katalin Novák offensichtlich keine andere Wahl als der Rücktritt. Die Krisenkommunikation der letzten Tage war wenig optimal, da kaum vorhanden. Bei politischen Krisen ist oftmals der Umgang mit der Krise entscheidender als die Krise selbst. Zudem bot die umstrittene Begnadigung durch Staatspräsidentin Novák eine offene Flanke auf einem für die Regierungsparteien sehr sensiblen Feld des Kinderschutzes. Das im Juni 2021 verabschiedete Kinderschutzgesetz wurde international zwar kritisiert, war aber für viele ungarische Wähler richtig und wichtig. Die Ungarn gelten aus kinder- und familienfreundlich und es herrscht parteiübergreifend Einigkeit über die Wichtigkeit des Kinderschutzes. Auch bei den relevanten Themenfeldern des sexuellen Missbrauchs von Kindern kennt die ungarische Gesellschaft kein Pardon. Aus diesen Gründen war die umstrittene Entscheidung der Staatspräsidentin zwar rechtlich, aber nicht politisch zu vertreten und vor allem für die Regierungsparteien eine politisch brisante Angelegenheit.
In ihrer Rücktrittserklärung formulierte Katalin Novák es wie folgt: „Ich habe mir die Frage stellen müssen, ob ich das Amt des ungarischen Staatspräsidenten dem Amtseid zufolge zum Wohl der ungarischen Nation werde ausüben können. Hätte ich die Freiheit, meine Aufgaben als Staatsoberhaupt ordnungsgemäß auszuüben? Meine Antwort auf beide Fragen war ein Nein.“ Sie entschuldigte sich bei all jenen, die sie in Stich ließ. Sie endete ihre Ansprache mit dem dem Vaterunser angehängten Lobpreis „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.“
Auswirkungen des Rücktritts
Politischen Beobachtern zufolge ist der Rücktritt geeignet, die Angelegenheit zu einem für die Regierungsparteien befriedigenden Abschluss zu bringen. Es stehen nun zwei relevante Personalentscheidungen an, nämlich die Nachfolge von Katalin Novák und die Listenführerschaft von Fidesz-KDNP zu den Europawahlen. Vereinzelt sind aus Oppositionskreisen Stimmen zu vernehmen, die nun eine direkte Wahl des Staatspräsidenten fordern oder den Rücktritt der Regierung von Viktor Orbán. Es wird von Analysten auch darauf hingewiesen, dass der Opposition die Themen fehlen, mit denen sie erfolgreich die Wähler im Lande ansprechen kann. Mit dem nun offenbar zum Ende gekommenen Skandal konnte die Opposition ein auch für bürgerliche Wähler relevantes Problem thematisieren und nutzte die Gunst der Stunde. Es ist aber davon auszugehen, dass die in der letzten Woche hochgekochte Angelegenheit mit den dramatischen Rücktrittsankündigungen erledigt sein sollte. Regierungsnahe Kommentatoren verwiesen zudem darauf, dass politische Fehler im bürgerlichen Lager niemals ohne Konsequenzen blieben. Die Opposition betonen aber, dass Fidesz-KDNP bereits nun zum zweiten Mal ein Staatsoberhaupt ins Amt gewählt hätte, das hat vorzeitig zurücktreten müssen (2012 trat Staatspräsident Pál Schmitt wegen einer Plagiatsaffäre zurück). Jedoch gibt es auch in der Opposition Stimmen, „die ganze furchtbare Sache hinter uns zu lassen“, so Péter Ungár, Vorsitzender der grünen LMP.
Fazit
Jenseits des Begnadigungsfalles und seiner persönlichen Auswirkungen für die beiden Politikerinnen ist nun abzuwarten, ob und wie sich die Entwicklungen in der Sonntagsfrage auswirken könnten. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die schnelle und energische Reaktion des Regierungslagers nunmehr den Wind aus den Segeln der Kritiker nehmen kann. Mit dem Rücktritt der Staatspräsidentin wurde die Angelegenheit nicht verschleppt, sondern mit aller Konsequenz abgeschlossen. Eine andere Frage ist die des politischen Personals. Mit dem Doppelrücktritt vom Samstag verliert Fidesz zwei bedeutende Politikerinnen von Rang, die mit ihrer professionellen, jugendlichen, weltoffenen und sprachgewandten Art einen neuen Typ an Politikern verkörperten.