Die Ungarn sind überzeugte Europäer und wollen in einem freien Europa ihre Souveränität geniessen. Wie kommt es, dass sich die Brüsseler Elite so vehement gegen Budapest stellt?

 

Viele Meinungsführer in Westeuropa haben sich auf das kleine Ungarn mit seinen knapp zehn Millionen Einwohnern eingeschossen. Die Politik der konservativen Regierung Orbán wird als «europafeindlich», «diktatorisch» und «xenophob» dargestellt. Die Rede ist von einer «illiberalen Demokratie». In Wahrheit verteidigen die Ungarn christlich-abendländische Werte, schützen die EU-Aussengrenzen und sind Bürger eines freien, souveränen und selbstbestimmten Landes. Wie ist dieser Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit zu erklären?

Konservative Wunschbilder

Viktor Orbán vertritt mit seiner manchmal eigenwilligen, doch sehr erfolgreichen Politik nicht nur einen grossen Teil der ungarischen Wähler, sondern steht auch pars pro toto für viele konservative Wunschbilder auf dem ganzen Kontinent. Seine Regierung ist damit der Lieblingsfeind der grünen und linksliberalen Bewegungen in Europa und besonders in Deutschland. Der namhafte konservative Historiker Andreas Rödder von der Universität Mainz sagt über die Ungarn, sie seien das Gegenbild der identitätspolitischen Linken.

Dass Orbán bereits zum vierten Mal in Folge vom Wähler mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit ausgestattet wurde, verstört viele Beobachter im westlichen Ausland. Sie empfinden Ungarn als bedrohlich, weil es den Beweis erbringt, dass konservative Politik die Menschen anspricht und reüssiert. Umso heftiger sind ihre Angriffe gegen Ungarns langjährigen Ministerpräsidenten.

Viktor Orbán schert sich nicht um sein schlechtes Bild in der ausländischen Presse, sondern bleibt seiner Politik treu, die eine grosse Mehrheit der Wähler überzeugt. Er vertritt den Ansatz, von den Ungarn gewählt worden zu sein und Politik für die Ungarn zu machen. Dabei tritt er erfolgreich für die Selbstbehauptung des Landes inmitten zahlreicher globaler Krisen ein.

Beispielsweise blieb Ungarn praktisch unberührt von den negativen Auswirkungen der europäischen Migrationskrise 2015, weil die Regierung die Grenzen sicherte und erklärte, man entscheide hier selber, mit wem man zusammenleben wolle. Die Ungarn sind Fremden gegenüber aufgeschlossen, doch besitzen sie ein feines Gespür für Bedrohungen ihrer Freiheit, ihrer Souveränität und ihrer Lebensweise. Die zahlreichen Fremdherrschaften der Vergangenheit haben sie hierzu sensibilisiert. Dass die Europäische Union verpflichtende Flüchtlingsquoten festschreiben wollte, hat dieses Freiheitsbewusstsein nur noch verstärkt.

Auch die Corona-Krise bewältigte Ungarn schnell, weil es als einziges Land auf alle sechs verfügbaren Impfstoffe setzte, um die Bevölkerung gegen das Virus zu immunisieren. Dabei wurde die Devise ausgegeben, dass die Freiheit, die den Ungarn so lieb und teuer ist, schnell und vollumfänglich wiederherzustellen sei. Auch daher verstanden die Ungarn die Bedeutung einer schnellen Durchimpfung. Ab Mai 2021 gab es im öffentlichen Leben fast keine Einschränkungen mehr, ein wichtiger Gewinn an Lebensqualität, der Ungarn auch international attraktiv machte. Ein wirtschaftlicher Wiederaufschwung war die Folge. Bald erreichte Ungarn wieder Vor-Corona-Werte.

Neben der erfolgreichen Krisenbewältigung nach der katastrophalen Regierungszeit der Sozialisten war das erste Ziel der neuen konservativen Regierung eindeutig Wohlstand und Beschäftigung. Ein alter Slogan aus dem Baukasten der deutschen Christdemokraten wurde in Ungarn in die Praxis umgesetzt: Sozial ist, was Arbeit schafft.

Mütter mit vier Kindern zahlen lebenslang keine Einkommenssteuern, ebenso Mütter bis zum 30. Lebenjahr.

Weniger Schulden, tiefere Steuern

Bereits im Jahre 2013 wurden die Schulden beim Internationalen Währungsfonds vorzeitig getilgt, und die massive Verschuldung der privaten wie der öffentlichen Haushalte in Fremdwährungen konnte nach und nach auf eine Denomination in der Landeswährung Forint umgestellt werden. Dabei galt auch die Politik einer gemeinsamen Lastentragung zwischen Banken, Staat und Verbrauchern. Die Steuerpolitik wurde komplett reformiert, Umgehungs- und Abschreibetatbestände wurden erheblich reduziert, wenn nicht in einigen Bereichen ganz abgeschafft, die Steuersätze stark gesenkt und damit auch Steuergerechtigkeit, Steuervereinfachung und Steuertransparenz realisiert. Die Unternehmenssteuer beträgt 9 Prozent, die Einkommenssteuer wie auch die Kapitalertragssteuer 15 Prozent.

Der grösste vorzeigbare Erfolg ist die Vollbeschäftigung im Lande mit einer Million neuen Arbeitsplätzen und der Steigerung der Zahl der einkommenssteuerpflichtigen Menschen von 1,7 Millionen im Jahre 2010 auf mehr als 4,6 Millionen im Jahre 2022. Dies wird begleitet von einer soliden Infrastrukturpolitik mit vielen neuen und guten Strassenverbindungen, hochkarätigen Investitionen und dem Ausbau des Breitband-Internets.

Den demografischen Wandel will Ungarn nicht durch Einwanderung, sondern durch die Steigerung der Geburtenzahlen bewältigen. Die Familien in Ungarn werden nicht mit dem Giesskannenprinzip im Sinne des Kindergelds gefördert, sondern in erster Linie mit Steuernachlässen. Dabei gilt: je mehr Kinder, desto weniger Steuern. Dadurch soll gerade die Mittelklasse gefördert werden, insbesondere junge Frauen.

Es gilt die Devise, dass mit einer Geburt keine Frau finanziell schlechterstehen darf als ohne. Mütter mit vier Kindern zahlen lebenslang keine Einkommenssteuern, ebenso Mütter bis zum 30. Lebensjahr. Diese Politik strotzt nur so von Erfolg: Die Geburtenquote stieg innerhalb der letzten zehn Jahre von 1,23 auf 1,59, die Abtreibungen sind auf einem historischen Niedrigstand, und die Zahl der Eheschliessungen explodiert förmlich.

Massregelungen und Gängelungen

Viele Ungarn erkennen die Vorteile dieser Politik und nehmen bereitwillig diese Möglichkeiten an. Wie in der Migrationspolitik kann die ungarische Regierung auch in der Familienpolitik auf eine Unterstützung auch grosser Teile der linken Wählerschaft verweisen. Dies schlägt sich in den Wahlergebnissen nieder.

Die Ungarn sind überzeugte Europäer und wollen in einem freien Europa ihre Souveränität geniessen und selbstbestimmt ihren eigenen Weg gehen, ohne Belehrungen von oben oder von aussen. Sie empfinden die ständigen Massregelungen und die Gängelungen als Einschnitt in ihre Freiheitssphäre.

Sie möchten Europa aber auch mitgestalten und ihren eigenen Gesellschaftsentwurf in die Diskussionen einbringen, weil sie davon überzeugt sind, dass dies Europa bereichert und es aus seiner lebendigen Mitte neu gedacht werden kann. Dabei prädestiniert sie ihre Diktaturerfahrung, ihr Eintreten für Freiheit und Selbstbestimmung sowie ihre jetzige Erfolgspolitik durchaus, ein Modell für andere zu sein.

 

Der Artikel ist in dem Wochenmagazin Die Weltwoche am 16. Februar 2023 erschienen. 

Foto: MTI / Pressebüro des Ministerpräsidenten / Zoltán Fischer