Nach der erfolgreichen Kompromiss-Paketlösung rund um den Wiederaufbaufonds und die Kohäsionsgelder sowie den Ukrainekredit und die globale Mindeststeuer dürften sich die Wogen auch im bilateralen Beziehungsgeflecht zwischen Deutschland und Ungarn glätten. Ungarn wurde mit dem Übereinkommen als verlässlicher europäischer Akteur wahrgenommen, mit dem man rechnen muss. Insbesondere Deutschland soll sich dem Vernehmen nach für eine Absenkung der eingefrorenen Kohäsionsgelder eingesetzt haben, was als Beleg einer pragmatischen Politik der Ampelregierung verstanden werden kann. Dies dürfte als hoffnungsvolles Zeichen für das beginnende Jahr 2023 gelten. Von dieser Grundannahme ausgehend könnten sich die deutsch-ungarischen Beziehungen besser als erwartet entwickeln.
Die Realität der deutsch-ungarischen Beziehungen
Es ist eine Binsenweisheit, dass die bilateralen Beziehungen in ihrer mannigfaltigen Breite durchaus gut aufgestellt sind. Die diversen Fäden, die beide Länder engmaschig miteinander verknüpfen, erstrecken sich auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche und bilden ein dichtes Netz an Zusammenarbeit, Vertrauen und Zuneigung.
Allen voran die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen, ebenso engmaschig und fest geknüpft sind die zivilgesellschaftliche Bande. Aber auch die Kontakte auf wissenschaftlichen, akademischem und universitärem Gebiet entwickeln sich vielversprechend und nachhaltig. Die Bürger beider Länder haben eine überwiegend positive Grundeinstellung zueinander, was jüngst auch im Deutsch-Ungarischen Barometer deutlich wurde. Die Menschen haben keine Probleme miteinander.
Schiefes Ungarnbild in den deutschen Medien
Leider findet sich die Realität kaum in der Berichterstattung führender deutscher Medien wieder. Oftmals wird ein schiefes Ungarnbild vermittelt und das Land in einem falschen Licht dargestellt. Insbesondere die Tiefe und Ernsthaftigkeit der bilateralen Beziehungen, seit Jahrhunderten gewachsen und felsenfest, werden dort kaum mehr gewürdigt.
Stattdessen kultiviert man in vielen deutschen Medien ein von Missverständnissen geprägtes, auf unwahren Grundannahmen beruhendes und schlichtweg falsches Bild von Land und Leuten – bewusst und unbewusst. Insbesondere die Entwicklungen der ungarischen Politik werden dort kaum verstanden und obendrein noch bewusst fehlinterpretiert.
Es tut hier dringend not, kommunikativ abzurüsten und sich auf Ungarn mit all seinen Facetten ehrlicher und offener einzulassen. Dabei gilt es, aus der Geschichte, der Politik, der Kultur, den Mentalitäten und Verhaltensweisen die richtigen Schlüsse zu ziehen und diese für das eigene Urteil urbar zu machen.
Ungarische Anachronismen?
Das schräge Ungarnbild hängt sicherlich auch mit der ambitionierten konservativen Agenda des Landes zusammen, das für viele deutsche Beobachter wie aus der Zeit gefallen erscheint. Doch sind viele Entwicklungen in Ungarn keineswegs anachronistische Auswüchse einer rückwärtsgewandten Politik, sondern vielmehr Ausdruck richtig verstandener Befindlichkeiten der Landesbevölkerung. Die Ungarn verfolgen einen Gesellschaftsansatz, der sich trägt und in sich schlüssig ist.
Sie sind in der Mitte der Gesellschaft in vielen Bereichen deutlich geschichts-, traditions- und wertebewusster als man dies in Deutschland kennt. Ihr Lebensbild basiert auf konservativen Werten wie Sicherheit, Heimat, Familie, Eigentum und Subsidiarität. Diese sind der medialen wie politischen Mainstream-Öffentlichkeit in Deutschland jedoch eher als Kampfbegriffe bekannt, reflektieren sie doch eine gänzlich andere Politikgestaltung, als man sie im Berliner Politikbetrieb kennt und schätzt.
Die Beziehungen auf politischer Ebene
Immer gelten die politischen Beziehungen im bilateralen Miteinander als Dreh- und Angelpunkt zwischen Deutschland und Ungarn – völlig zu Recht. Daher lohnt es sich, Anfang des Jahres 2023 eine Bestandsaufnahme zu wagen und etwaige Rückschlüsse auf die Politik der neuen Bundesregierung zu ziehen.
Erstaunlich ist in erster Linie, dass lange Zeit, insbesondere im Vorfeld der Parlamentswahlen die Kommunikation der Bundesregierung in Richtung Ungarn keinerlei Vorwürfe enthielt. Lediglich das Gebaren einiger Politiker der Ampelkoalition trübte dieses Bild – doch solche Haltungen gegenüber Ungarn fanden und finden sich auch in anderen Parteien. Erstaunlich ist hingegen, dass die Ampelkoalition trotz der insbesondere in der Innen-, Gesellschafts- und Migrationspolitik anders gelagerten Politikansätze zu keiner Grundsatzkritik an Ungarn ausholte.
Dies mag damit zusammenhängen, dass man die abweichende Politikgestaltung der Ungarn bereits eingepreist hat und es womöglich kaum als förderlich erachtet, das Land bekehren zu wollen. Man ist sich der politischen Gegensätze bewusst und kann so zu einem ganz entspannten und pragmatischen Umgang finden. Der 50. Jahrestag der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen Ende des Jahres kann eine wichtige Wegmarke in diesem respektvollen Umgang miteinander werden. Hierbei kann sich in aller Deutlichkeit zeigen, wie ehrlich es die Politik meint.
Toleranzangebot
Die Visite des ungarischen Ministerpräsidenten in Berlin steht ganz in diesem Zeichen. Viktor Orbán selbst betonte, dass es insbesondere in der Migrations-, Familien- und Europapolitik unterschiedliche Vorstellungen in Berlin und Budapest gebe. Diese aber auszuhalten und nicht zu einem Konflikt hochschwelen zu lassen, ist kluge Diplomatie. Es gibt ein Toleranzangebot der ungarischen Politik, Berlin hat es bisher nicht zurückgewiesen. Von diesem Ansatz her könnten auch die politischen Beziehungen ganz im Zeichen eines Europas der Vielfalt und der verschiedenen Politikansätze gestaltet werden.
Die Zusammenkunft mit Bundeskanzler Olaf Scholz dauerte ungewöhnlicher Weise lange zwei Stunden, ging auf viele wichtige europäische und bilaterale Fragen ein und kann unter dem Stern dieses Toleranzgebots verstanden werden. So fand der ungarische Ministerpräsident in einem Interview mit der Monatszeitschrift Tichys Einblick deutliche und anerkennende Worte: „Scholz ist wie ein Ungar.“
Persönlich geht vor
Nach den vielen Ministerbesuchen in Berlin wagt sich auch die deutsche Politik wieder nach Ungarn. Im Januar 2023 kommt die neue Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Natalie Pawlik (SPD), nach Ungarn und begeht die traditionelle Festgala der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen in Fünfkirchen/Pécs. Wenig später tritt der Parlamentsabgeordnete der Ungarndeutschen, Imre Ritter, vor einem deutschen Publikum aus dem Kreise der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft in der Bundesrepublik und des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit auf.
Gerade die ungarndeutsche Gemeinschaft ist ein wichtiges Bindeglied zwischen Deutschland und Ungarn. Sie hilft, einander besser zu verstehen und das jeweilig andere Land in seiner ganzen Tiefe zu durchdringen. Dass dabei Ungarn eine vorbildliche Minderheitenpolitik betreibt und auch die Ungarndeutschen in einer guten und hoffnungsvollen Situation sind, ist jedoch in Deutschland leider kaum bekannt. Auch viele andere Aspekte von Ungarn kommen in der deutschen Öffentlichkeit nicht oder nur ganz am Rande vor. Daher ist es nach wie vor relevant, möglichst viele persönliche Bande zu knüpfen und Persönlichkeiten nach Ungarn einzuladen, wie aber auch aktiv auf die deutsche Gesellschaft zuzugehen.
Fazit
Das Jahr 2023 kann ein Jahr des Aufbruchs und des Neuanfangs werden. Die Beziehungen könnten sich besser gestalten als viele antizipieren. Grundlage dafür ist, dass sich die Beteiligten offen zeigen und den anderen nicht bekehren, sondern ihn vielmehr in seinem Anderssein annehmen, und sich auf das andere Land einzulassen imstande sind.
Die Grundvoraussetzungen sind gegeben. Ungarn hat seine Wegmarken klar und unmissverständlich gesetzt. Die Politik des Landes ist bekannt und berechenbar. Auch die deutschen Regierungsparteien haben ihre Positionen klar abgesteckt. Allen Beteiligten ist klar, dass viele gesellschaftspolitische Fragen in Berlin und Budapest anders gesehen werden. Diese Differenzen müssen jedoch kein Hinderungsgrund sein für einen konstruktiven, pragmatischen Umgang miteinander.
Foto: MTI / Pressebüro des Ministerpräsidenten / Zoltán Fischer