Der Wille zur Selbstbehauptung scheint in der westlichen Welt, besonders in Deutschland, gerade bei seinen Eliten erlahmt zu sein, von der Hochschulen über die Medien bis in die Parlamente. Statt mit ihrer Selbstbehauptung sind sie mit Kritik und Dekonstruktion unserer Kultur und unserer Interessen beschäftigt.
Ein evolutionär unwahrscheinlicher Vorgang
Diese radikale Selbstverleugnung ist ein evolutionär unwahrscheinlicher Vorgang, denn in der Evolution und Geschichte der Menschheit muss jedes Lebewesen, jede Gruppe von Menschen immerzu um Selbstbehauptung ringen. Wie lange kann man es sich leisten, dies nicht zu tun? Diese Frage dramatisiert sich dadurch, dass andere Kulturen und Mächte – ob im Islamismus, im Darwinismus Chinas oder im Nationalismus Russlands – diese Schwächeerscheinung ausnutzen und umgekehrt ihre Selbstbehauptung teils dramatisch verstärken.
Die Globalisierung wurde von autoritären Regimen vielmehr dazu ausgenutzt, ihre Macht gegenüber den eigenen Bürgern und gegenüber dem Westen auszubauen. Der Westen, unter dem wir die rechtsstaatlichen Demokratien der Welt verstehen, umfasst mit den EU-Staaten, Nordamerika, Ozeanien und einigen ostasiatischen Staaten kaum mehr als ein Zehntel der Weltbevölkerung. Die Demokratien werden weniger, Autoritarismus, im Islamismus und in China sogar Totalitarismus sind auf dem Vormarsch.
Globalismus als neue Weltanschauung
In dieser Situation scheint erheblichen Teilen der westlichen Eliten der Realitätssinn abhandengekommen zu sein. Darüber sind die wichtigsten Grenzen überhaupt in Vergessenheit geraten: die Grenzen des Möglichen und der Sinn für das Notwendige.
Mit rationalen Argumenten ist dem neuen Globalismus nicht beizukommen, weil es sich offenkundig um ersatzreligiöse Sehnsüchte handelt. Es scheint sich um eine historische Gesetzmäßigkeit zu handeln. In dem gleichen Maße, wie der Gottesglaube sinkt, steigt der Glaube an politische Götter. In der westlichen Welt erreicht das Bekenntnis zum Christentum immer neue Tiefstände. Doch in Analogie zum Energieerhaltungsgesetz verschwinden die im Menschen angelegte Sehnsüchte nicht, sie transformieren sich nur.
Es ist kein Zufall, dass der Globalismus seinen Ausgang an den Universitäten der USA nahm, ab denen der globale Humanitarismus den Studenten, meist aus reichem Haus, als eine Art Ablasshandel dient. Das „Globale Denken“ erhebt den Anspruch, die ganze Welt im Blick zu haben. Gegnerschaft und Gegensätze darf es nicht mehr geben, womit das Differenzieren entfällt. Partikulare Eigeninteressen sind unstatthaft und werden als nazistisch oder gar rassistisch diffamiert.
Überforderung der eigenen Kultur
Mit dem Globalismus droht jedoch die Zerstörung lokaler Güter – auch über die Migration nach Europa, dessen Sozialstaatlichkeit auf ungelernte Massen wie ein Magnet wirkt und die national verfassten Sozialstaaten, aber auch deren eigene Kultur überfordert. Bei der Ausbreitung des Corona-Virus von einer chinesischen Epidemie zur Pandemie wurden die Schattenseiten der mutwilligen Entgrenzungen offenkundig. Aktuelle Engpässe am Medikamentenmarkt entlarven den Globalismus selbst als ökonomische Utopie.
Mit dem Krieg in der Ukraine und dem folgenden Sanktionskrieg des Westens gegen Russland ist die „Eine-Welt-Theorie“ vollends an der Realität zerschellt, woraus sich die undiplomatische Wut erklärt, „Russland ruinieren“ (Annalena Baerbock) zu wollen. Auch die „feministische Außenpolitik“ vermag etwa in Afghanistan nicht zu reüssieren. Die 200 Millionen Euro, die Ministerin Baerbock zur Frauenförderung an die Taliban überwies, wurden gerne angenommen, Schulen und Hochschulen für Frauen jedoch trotzdem geschlossen.
Die „Global Governance“ endet in Pakten mit sich selbst, in einem weltweiten Migrations-, Klima- und Biodiversitätspakt. Wer sich an die Vereinbarungen hält, erleidet Wettbewerbsnachteile. Wichtig sind den Staaten des „Globalen Südens“ Bußgelder der reicheren Staaten. Der Globalismus des Westens wird in anderen Kulturen nur geschätzt, wenn sich daraus eigene Vorteile schlagen lassen.
Differenzierter Protektionismus
Das Prinzip der komparativen Kostenvorteile im Freihandel wird auch in Zukunft Geltung behalten. Über die Grenzen, was dem Wettbewerb ausgesetzt werden soll und was nicht, müsste aber eben auch im Lichte lokaler und nationaler Interessen gestritten werden.
Bei den immerzu als „rechts“ geschmähten Kräften handelt es sich in Wirklichkeit um Protektionisten, die das Eigene schützen wollen. Je stärker diese Kräfte ins Abseits gedrängt werden, desto stärker drohen sie sich zu radikalisieren. Stattdessen müsste sie in neuen Diskursen über globale Mittelwege zwischen Globalismus und Protektionismus eingebunden werden.
Die großen Konflikte der Gegenwart vollziehen sich nicht mehr zwischen Links und Rechts, sondern zwischen Globalisten und Protektionisten. Letztere fordern etwa eine Dezentralisierung der Grundversorgung an Medikamenten oder auch Nahrung und mehr Schutz für mittelständische Existenzen. Die Suche nach globalen Mittelwegen ist die politische Aufgabe der Zukunft.
Mit der Wiederkehr kontrollfähiger Grenzen wären die wichtigsten Voraussetzungen für dezentralere Wege gelegt. Eine multipolare Weltordnung wäre ein Mittelweg zwischen utopischem Globalismus und regressivem Nationalismus. In ihr müssten die einzelnen Regionalmächte ihre Einflusssphären gegenseitig respektieren. Zu einer multipolaren Ordnung gehört der Respekt vor Grenzen und Einflusssphären, vor militärisch neutralen Zwischenräumen wie einst Finnland und die Ukraine, vor allem aber eine Einsicht in die eigenen Grenzen und Möglichkeiten.
Rekonstruktion der Kultur und Entideologisierung der Politik
Der zwar berechtigte, aber unzureichende Zorn von Wutbürgern, droht ohne jeden Gottesbezug und eigene positive Erzählungen zu scheitern. Sowohl Trump als auch die Brexiter reagierten nur auf Teilprobleme der Globalisierung und blieben ihr aber im Großen und Ganzen verhaftet. Eine neue Kulturrevolution dürfte sich nicht primär an der Wiederherstellung der Vergangenheit orientieren („Take back Control“; „Make America great again“), sondern müsste die besseren Elemente der Vergangenheit für eine Neugestaltung der Zukunft nutzen.
Auf die christlichen Weisheiten über die Natur des Menschen, der benediktinischen Regeln und der Christlichen Soziallehre kann der einst „Abendland“ genannte Westen nicht verzichten. Im Christentum hat die Trennung von geistigen und weltlichen Kategorien, seine Anlage und Bereitschaft zur Säkularität, den Keim dafür gelegt, dass sich die Eigenlogik in weiteren Funktionssystemen entwickeln konnte.
Damit wurden Grundlagen für die Dynamik der westlichen Welt gelegt. Die Ausdehnung dieser Dynamik über den Erdball war eine Grundlage für spätere Globalisierungsprozesse. Mit den Grenzen des Christentums werden aber auch die Grenzen der Globalisierbarkeit des Westens deutlich, deren Defizite auf den kulturrelativistischen Westen in besonderer Weise zurückschlagen.
Letztlich wird es sich aber an der Rekonstruierbarkeit der europäischen Kultur erweisen, ob wir den auf uns zukommenden Bedrohungen gewachsen sind. Immerhin gibt es im Bereich der politischen Kultur erste Zeichen für eine Rückkehr zur Realität. Unsere Kultur ist in ihrem Wesenskern durch gegenseitige Ergänzungen von ideellen und materiellen, kulturellen und zivilisatorischen Kräften gekennzeichnet. Die Rekonstruktion des Bürgertums wäre mit ihrem spezifischen Ausgleich von Rechten und Pflichten der gesellschaftliche Ausgangspunkt.
Alte Ideologien beginnen, sich im Paradigma der notwendigen Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung neu zu definieren. Wenn etwa dänische Sozialdemokraten das missbrauchte Asylrecht abschaffen, um den Sozialstaat zu retten und wenn immer mehr Liberale individuelle Freiheitsrechte vor der Scharia schützen wollen, dann rücken ehemals linke und rechte, liberale und konservative Kräfte in dieser neuen Erfordernis zur Selbstbehauptung zusammen.
Selbstbegrenzung durch Dezentralisierung
Antonio Gramsci hatte der politischen Linken geraten, zuerst die kulturelle Hegemonie und dann die Macht zu erobern. Umgekehrt stellt sich heute die Aufgabe, wieder eine bürgerliche Hegemonie zu gewinnen, nach all den Dekonstruktionen des Eigenen die Suche nach Wegen zu einer Rekonstruktion des Westens zu suchen.
Mehr Dezentralität wäre der notwendige Ausgleich zur Globalität. Dies bedeutet etwa den Wiederaufbau familiärer Lebensformen, einen größeren Schutz des europäischen Wirtschaftsraums und den Aufbau eines arbeitsbasierten Sozialsystems. Vordringlich ist zunächst einmal die Rehabilitierung der eigenen und gegenwärtigen Interessen gegenüber letztlich größenwahnsinnigen, allein in die Zukunft gerichteten Heilsvorstellungen.
Foto: Tamás Gyurkovits