33 Jahre nach der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit ist Deutschland nach wie vor gespalten. Die Deutschen auf dem Gebiet der früheren DDR sehen manches anders als die Deutschen auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik. Es gibt in Deutschland sehr gegensätzliche Haltungen, wenn es beispielsweise um die Themen Europa, Migration, Corona und die Ukraine geht. Gespalten ist Deutschland auch im Blick auf Ungarn: Für die einen ist es der Sehnsuchtsort, wo sie einen politischen Kurs vermuten, den sie sich für ihr eigenes Land und ganz Europa wünschen, und in das sie sogar auswandern möchten. Für die anderen verkörpert Ungarn all das an traditionellem und konservativ-bürgerlichem Denken, das man schon lange überwunden zu haben glaubte.
Der renommierte deutsche Meinungsforscher Hermann Binkert, Gründer und geschäftsführender Gesellschafter des Meinungsforschungsinstituts INSA-CONSULERE, erläuterte am Mittwoch, den 5. Juli 2023, auf Einladung des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium (MCC) und des Nézőpont Institutes, was Meinungsforschung leisten kann, aber auch warum Meinungsbildung so wichtig ist. Binkert hielt seinen Vortrag mit dem Titel „Deutschland – ein gespaltenes Land?” vor einem reichen Publikum von circa 70 Leuten im MCC Scruton Café in Budapest. Ergänzt wurde das Podium vom Dr. Ágoston Mráz, Direktor von Nézőpont. Moderiert wurde der Abend von Dr. Alexander Grau, Journalist, Philosoph und Visiting Fellow des Deutsch-Ungarischen Institutes.
Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Institutes, ging in seiner Eröffnungsrede aus dem Anlass der jüngsten deutschen Wahlerfolge der AfD auf die neuerliche Spaltung des Landes ein. Auch die jüngsten Debatten um den europäischen Migrations- und Asylpakt und den Ukrainekrieg verdeutlichten diese neuerlich, würden aber auch nach außen im Verhältnis zu Ungarn eine prägende Rolle spielen. Der konservativ-bürgerliche Kurs Ungarns sorge für Zustimmung und Unverständnis gleichermaßen, der ungarische realpolitische Weg in der Migrationspolitik scheine sich dennoch zunehmend auf europäischer Ebene durchzusetzen. In diesem Sinne sei in diesen debattenreichen und ambivalenten ein Forum für den gemeinsamen Dialog umso wichtiger.
In seinem Vortrag hob Binkert die Bedeutung der deutsch-ungarischen Beziehungen hervor: „Wir Deutschen werden den Ungarn für immer dankbar sein, dass hier im Sommer 1989 der Eiserne Vorhang löchrig geworden ist und damit der erste Stein aus der Mauer gestoßen wurde. Damit wurde in Ungarn Geschichte verändert.” Weiterhin betonte er die Wichtigkeit der Meinungsforschung innerhalb demokratischer Gesellschaften, da viele Menschen viele Sachverhalte nach wie vor für selbstverständlich halten würden, ohne sie zu erforschen und damit noch auf dem „Sachstand von Aristoteles” seien. Äußerst wichtig sei auch, wie man in der Meinungsforschung seine Fragen stelle. So sei beispielsweise sowohl über die Hälfte aller Befragten für oder gegen den Autobahnbau, je nachdem ob man diesen in Verbindung mit dem Klimaschutz bringe. Binkert betonte, dass Meinungsforschung nicht missbraucht werden dürfe, um die Agenda der Politik zu bilden. Vielmehr könne Meinungsforschung leisten herauszufinden, welches Argument das bessere sei.
Im Folgenden präsentierte Binkert die Ergebnisse seiner Meinungsforschung. Demzufolge seien zwei Drittel der Deutschen tatsächlich der Meinung, dass Deutschland ein gespaltenes Land sei. Die AfD und ihre Wähler stellten innerhalb der deutschen Parteienlandschaft eine protestierende Sonderrolle innerhalb ihrer Positionen dar, Auf Europa blickend würden 37 % einen europäischen Bundesstaat befürworten, 36 % hingegen ablehnen, sodass die deutsche Meinung in dieser Frage sehr ausgeglichen sei. In der Bewertung der deutschen und ungarischen Regierungen würde jeder zweite Deutsche die deutsche Regierung bevorzugen, ganze 20 % tatsächlich die ungarische Regierung. Gerade in Anbetracht der deutschen medialen Meinung von Ungarn, sei dieser Wert gar nicht so schlecht. Innenpolitisch habe sich gezeigt, dass das Vertrauen in die Medien, insbesondere die öffentlich-rechtlichen Medien und insbesondere bei jungen Menschen, in die Brüche gegangen sei. Fast jeder Zweite hätte Angst, seine Meinung zu sagen aus Angst vor Repressionen. Jeder Zweite zweifle daran, dass Deutschland eine echte Demokratie sei. Dies gelte es ernst zu nehmen und die eigene Politik stärker zu reflektieren. Im Hinblick auf die Ukraine sei die überwiegende Mehrheit von 51 % der Deutschen für eine diplomatische Lösung des Konfliktes. Dies stehe im Kontrast zu der im Parlament und von der Regierung vertretenen Politik gesteigerter Waffenlieferungen. Nur kleine Minderheit wünsche sich entweder einen militärischen Sieg der Ukraine oder Russlands. Nichtsdestotrotz halte ein kleinerer Prozentsatz der Deutschen eine diplomatische Lösung für realistisch, als jener, der sich eine wünsche. Anschließend präsentierte er die Ergebnisse der aktuellsten Sonntagsfrage nach der Wahlpräferenz der Bürger, nach der die AfD mit 21 % auf dem zweitstärksten Platz stehe, von denen 6 % jedoch unsichere Wähler seien. Für die CDU bedeute dies, dass vonseiten der AfD mittlerweile ein doppelt so großes Wählerpotential bestehe wie vonseiten der Grünen.
In der an den Vortrag anschließenden Podiumsdiskussion fiel das Wort auf die Frage, ob Deutschland nicht immer eine gespaltene Gesellschaft gewesen sei. Dies sei korrekt, allerdings würden es die bestehenden Parteien in Deutschland nicht mehr schaffen, dieses heterogene Meinungsspektrum abzubilden, sodass sich eine Repräsentationslücke aufgetan hätte. Früher habe es für die gegensätzliche Meinung auch eine zugehörige politische parlamentarische Opposition gegeben. So ließe sich auch der Aufstieg der AfD erklären. Nonkonforme Meinungen könnten nicht mehr stattfinden, da der Dialog weniger von Argumenten als vielmehr von moralischer Haltung geprägt sei. Unter Kategorien von Gut und Böse, Richtig und Falsch leide die demokratische Debatte. Weiterhin wurde der Effekt diskutiert, inwieweit Umfrageergebnisse die tatsächlichen Wahlen beeinflussen würden, ebenso inwieweit Ungarn ein polarisiertes Land sei. Hier zeige sich, dass sich die Spaltung auf sachthematischer Ebene, so im Ukrainekrieg oder der Migration, und parteiideologischer Ebene völlig unterschiedlich darstelle.
Die Fragen des Publikums beschlossen den Abend, die sich unter anderem um die Meinungsmacht der Medien sowie die Radikalisierung und Moralisierung der Debatten durch die Politik drehten. Es habe sich gezeigt, dass die Menschen sich dann von der Meinung der Medien abwenden würden, wenn diese ihren eigenen Erfahrungen nicht mehr entsprechen würde. Die Kontraste zwischen dem Narrativ der Medien und den Erfahrungen der Bevölkerung hätte sich in vielen Themen immer deutlicher aufgetan. Auch der Druck der sozialen Erwünschtheit habe die Polarisierung und das Protestpotential im Land weiter gesteigert. Die Diskussion wurde im Rahmen eines Abendempfanges fortgesetzt.
Im Rahmen seines dreitägigen Fachprogrammes in Budapest traf Binkert Dr. Csaba Hende MdNV, Vizepräsident der Ungarischen Nationalversammlung und Vorsitzender des Gesetzgebungsausschusses sowie Verteidigungsminister a.D., weiter Zsófia Nagy-Vargha, stellvertretende Staatssekretärin für Jugend im Ministerium für Kultur und Innovation, Gyula István Soós, Abteilungsleiter des Entwicklungshilfeprogrammes „Hungary Helps“, Arne Gobert, Präsident des Deutschen Wirtschaftsclubs, Dr. Zoltán Szalai, Generaldirektor des Mathias Corvinus Collegium, Dr. Ágoston Mráz, Direktor des Nézőpont-Instituts, Kristóf Altusz, Diplomatischer Direktor im Büro der Staatspräsidentin, Márton Veisz, Direktor für Auswärtige Angelegenheiten der Stiftung für ein Bürgerliches Ungarn sowie Michael Winzer, Leiter des Auslandsbüros Ungarn der Konrad-Adenauer-Stiftung.