Zwischen dem 4. und 8. März 2024 war Prof. Dr. Tilman Mayer, Professor für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, zu Gast am Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit (DUI).

Mayer ist ein renommierter Deutschlandforscher und Demograph. Im Rahmen seines Aufenthalts traf er sich mit verschiedenen Experten aus den Fachbereichen deutsche Minderheitenpolitik und Familienpolitik sowie dem Stiftungswesen in Ungarn. Am Mittwoch, den 6. März am MCC Budapest und am Donnerstag, den 7. März am MCC Szekszárd hielt Mayer einen Fachvortrag mit anschließender Podiumsdiskussion zum Thema „Deutschland – ein historisches und politisches Experimentierfeld“. Die Veranstaltungen mit einem Publikum von rund 40-60 Leuten wurde von Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Visiting Fellow des DUI, moderiert.

Im Laufe seines Vortrags wies Professor Mayer auf die zahlreichen Turbulenzen, Schwächen und Krisen hin, die die deutsche Nation seit ihrer Nationalstaatsgründung 1871 durchlebt habe. Die deutschen hätten im Vergleich zu den Engländern oder Franzosen eine Art historischen Sonderweg auf dem „Experimentierfeld der Geschichte“ beschritten. Dieser habe von der Monarchie über eine Demokratie ohne Demokraten in die nationalsozialistische totalitäre Diktatur und schließlich die 40-jährige Teilung Deutschlands in eine kommunistische totalitäre Diktatur und eine bundesrepublikanische Kanzlerdemokratie geführt. Diese Systemwechsel und die deutsche Teilung hätten nicht nur die Mentalitäten der Deutschen nachhaltig geprägt, sondern auch Europa für Jahrzehnte gespalten.

Während die Ostdeutschen mit der Parole „Wir sind ein Volk“ ein friedlich-revolutionäres Potenzial entwickelt und damit ein anderes und stärkeres Verhältnis zur Nation entwickelt hätten, würden sich die Westdeutschen von der Nation entfremden und sich als „verletzte Nation“ betrachten, gar eher Europäer sein wollen als Deutsche. Viele, so Mayer, könnten nur noch schwerlich definieren, was Deutschsein überhaupt bedeute. Die Generationen verbindende Erzählung vom Aufstieg durch harte Arbeit jedenfalls scheine inzwischen nicht mehr unbedingt gültig zu sein. Die deutsche Identität und politische Kultur befinde sich außerdem durch die Migration in erheblichem Wandel. Dieser Prozess der Gesellschaftsveränderung lasse sich auch im Wechsel des Staatsbürgerschaftsrechts 2000 und 2024 feststellen.

Mayer appellierte, dass man Nation und Nationalstaat neu denken müsse. Nationen müssten nicht als kriegerisch gesehen werden, sondern könnten auch eine bedeutende Friedensfunktion einnehmen. Die deutsch-israelische und deutsch-französische Aussöhnung seien ein Beispiel dafür. Man könne die Nation also als etwas konstruktives, integratives, resilientes, subsidiäres und fortschrittliches denken. Nationalstaaten, so Mayer, würden Ordnung stabilisieren – vor allem in Krisenzeiten.

Zum Abschluss warf er einen Blick auf die gegenwärtigen linksliberalen Ideologiekonzepte in Deutschland und Europa, die auch als Experiment bezeichnet werden könnten. Hier sprach der die Phänomene der Cancel Culture, der politisch korrekten Sprache, des Genderzwangs, der sogenannten kulturellen Aneignung und der Pflicht zur Diversität an. Auch linksliberale praktische Politikkonzepte würden in alle Lebensbereiche der Bürger intervenieren: Fleischkonsum, Heizung, Hausbau und Benutzung von Autos. Die multikulturelle Gesellschaft werde als alternativlos propagiert, Grenzen zu verteidigen werde problematisiert. Derartige linke Themen fänden sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens von den Medien, über Schulen und Universitäten, bis in die Theater, Kirchen, Bücher. Konservative Positionen würden hingegen grundsätzlich mit dem Stempel „rechts“ als suspekt erklärt.

In der anschließenden Podiumsdiskussion mit Professor Kroll und dem Publikum erörterte Mayer zahlreiche Fragen der aktuellen deutschen Politik und Wirtschaft, der deutschen Identität, aber auch der deutsch-ungarischen Beziehungen. Ferner sprach er über seine Eindrücke von Ungarn, Budapest und Szekszárd.

Im Rahmen seines Programms in Budapest traf Tilman Mayer den Abgeordneten der Ungarndeutschen in der Ungarischen Nationalversammlung, Emmerich Ritter, im Parlament, weiterhin Ágnes Hornung, Staatssekretärin für Familie, sowie die Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Hanns-Seidel-Stiftung in Ungarn. Am zweiten Tag besuchte er Tünde Fürész, Vorsitzende des Mária Kopp Instituts für Bevölkerung und Familien (KINCS), Gergely Prőhle, Ungarischer Botschafter in Berlin a.D. und Direktor der Otto-von-Habsburg-Stiftung sowie Dr. Elisabeth Knab, Vorstandsvorsitzende des Deutsch-Ungarischen Jugendwerks. In Szekszárd traf Mayer die Ungarndeutschen György Krémer, den Sekretär des Verbands der deutschen Selbsverwaltungen im Komitat Tolna und Attila Berlinger, den Geschäftsführer des Babits Mihály Kulturzentrums Szekszárd.