Der EVP-Vorsitzende und frühere EU-Ratspräsident Donald Tusk hat sich in den ungarischen Wahlkampf eingemischt – gegen Ministerpräsident Orbán. Warum er das tat, ist nur mit Blick auf die Geschichte Polens und Ungarns sowie der beiden Männer zu verstehen.

Von der breiten europäischen Öffentlichkeit unbemerkt hat sich der amtierende EVP-Vorsitzende Donald Tusk, zudem auch Vorsitzender der polnischen Bürgerplattform (PO), massiv in den ungarischen Wahlkampf eingeschaltet. Tusk trat auf der Wahlkundgebung der ungarischen Linksallianz auf, die neben grünen und linken Parteien auch die rechtsradikale Jobbik umfasst. Auf Bildern ist Tusk in freundlicher Eintracht mit dem Jobbik-Vorsitzenden zu sehen. Sind wirklich alle Mittel recht, um die Regierung von Viktor Orbán zu stürzen? Warum bekennt sich der Chef der EVP offen gegen seinen einstigen Verbündeten Orbán und gegen die Konservativen in Ungarn? Dies zu verstehen bedarf es eines Blickes in die wechselvolle Geschichte der beiden Männer und auf die Wechselwirkungen der polnischen und ungarischen Politik. Denn beide bedingen einander eh und je. 

Mit dem Amtsantritt der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán am 29. Mai 2010 herrschte in Ungarn große Euphorie. Auch in Europa war man der abgewirtschafteten sozialistischen Vorgängerregierung überdrüssig und auch viele linksliberale Vertreter und Beobachter zollten der neuen Fidesz-Regierung Respekt. Es gab Vorschusslorbeeren und große Erwartungen. In dieser besonderen Zeit setzte der neue ungarische Ministerpräsident Wegmarken, die zu verstehen und zu bewerten gerade aus der heutigen Perspektive aufschlussreich erscheint. Bis dahin war es üblich, dass ein neuer ungarischer Ministerpräsident seine erste Auslandsreise in Wien oder Berlin absolvierte.

Orbán brach mit dieser Tradition und reiste am 31. Mai 2010 – erster Arbeitstag seiner Regierung und zugleich sein 47. Geburtstag – unmittelbar zu Ministerpräsident Donald Tusk nach Warschau. In der Tat gab es zwischen Donald Tusk und Viktor Orbán eine aus der EVP gewachsene natürliche Nähe, eine Nähe zwischen einstigen antikommunistischen Oppositionellen, eine Nähe ob des Alters (Tusk wurde 1957, Orbán 1963 geboren), auch wegen gemeinsamer Vorliebe für den Fußball oder aufgrund des Interesses für Geschichte und zeitgeschichtliche Zusammenhänge. 

Die neue ungarische Regierung war im Begriff, in den Jahren ab 2010 den massiven Reformstau der Vorgängerregierungen abzubauen. Sie war mit dem Wählermandat versehen worden, weitreichende Veränderungen in der ungarischen Gesellschaft zu bewirken. Auch hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die unvollendete Wende von 1989 abzuschließen und das Land schließlich als gleichberechtigten und selbstbewussten Partner im mehrstimmigen europäischen Konzert der Nationen zu etablieren. Bis dahin galt eine umstands- und kritiklose Orientierung an den Mustern, Schemata und Handlungsweisen aus dem entwickelten Westen der alten Europäischen Union als gesinnungsethisch untadlige europäische Handlungsnorm. Diesem Normativ huldigen auch heute noch die Vertreter der linken und liberalen Parteien, hingegen hat das bürgerliche Lager erkannt, dass sich Ungarn um die eigene Achse drehen und mit eigenem Anspruch auf dem europäischen Parkett auftreten muss. Dieser unterschiedliche Politikansatz durchzieht viele Facetten der parteipolitischen Auseinandersetzung in Ungarn und auch in Polen. 

Massiver Veränderungswille auf der einen Seite und alte Seilschaften der Sozialisten und Liberalen auf der anderen Seite, die diesen zu torpedieren und zu diskreditieren bestrebt waren: So in etwa konnte man die sich auf europäischer Ebene wiederfindenden innerungarischen Konfliktlinien bezeichnen. Mit jedem Jahr ihrer Regierung, mit jeder Maßnahme zur Gesundung des Landes, mit jedem Schritt hin zu den strategischen Zielen eines souveränen und selbstbestimmten Nationalstaats waren die enttäuschten Erwartungen und Hoffnungen der europäischen Partner zum Greifen nahe. Die ungarische Regierung um Viktor Orbán folgte nämlich nicht den eingespielten Verfahrensweisen, sondern führte eine eigenwillige, in der Selbstbezeichnung „unorthodoxe“ Politik durch, die sich am Wohl der ungarischen Bevölkerung orientierte. 

Schließlich kam es mitten in der europäischen Migrationskrise zu einem Ereignis in Polen, das den Weg und die Handlungsoptionen der ungarischen Regierungspartei maßgeblich prägte. PO wurde aber bei den Parlamentswahlen im Herbst 2015 abgewählt, fortan stellte die PiS die Regierung. Donald Tusk war zu jenem Zeitpunkt schon nicht mehr Ministerpräsident, sondern hatte sich nach dem Muster von Prodi, Barroso und Juncker kurz vor dem sich abzeichnenden Machtverlust auf die europäische Ebene gerettet.

Zum neuen Präsidenten des Europäischen Rates avanciert, war er nach dem EP-Parlamentspräsidenten Jerzy Buzek der zweite aus dem ehemaligen Ostblock, der ein europäisches Spitzenamt bekleiden durfte. Diese Personalauswahl illustriert auch die Mechanismen und Funktionsweisen der europäischen Politik: Jahre nach der EU-Osterweiterung kam man nicht mehr umhin, auch Spitzenpersonal aus jenen Ländern zu integrieren; beide Male fiel die Wahl auf Polen und dabei auf die Lieblingspartei der westlichen Eliten, nämlich auf die sich besonders prowestlich gebende Bürgerplattform. 

Die Person von Donald Tusk war dabei geradezu ideal, repräsentierte er nämlich gerade als Mitteleuropäer eben jene Denkweise, die in der alten EU gerne gesehen wird. Diese Mentalität offenbart sich in einer strikten Anlehnung an die bewährten Macht- und Funktionsmechanismen der alten EU-Länder, deren Politiken und Attitüden, ohne einen eigenen spezifischen ostmitteleuropäischen Ansatz einzubringen. Dass sich bei dieser Personalauswahl die anderen Länder der Region nicht immer gänzlich wiederfanden, überschritt nicht die Wahrnehmungsschwelle der Brüsseler Salons und der dortigen Eliten. 

Geopolitisch justierte die PiS-Regierung den Kurs ihrer Vorgänger. Statt nunmehr einseitig gen Westen zu blicken, konzentrierten sich die neuen Machthaber auf die Wiederbelebung der Visegrád-Gruppe. Eine der enttäuschten Erwartungshaltungen von Ungarn gegenüber den zentristischen PO-Regierungen war es gerade, zu wenig den Fokus auf die Region zu legen, dafür aber umso mehr Polen nur im Verbund der großen westlichen EU-Länder zu verorten. In der polnischen Geschichte reicht der Streit über die geostrategische Verortung des Landes weit zurück. Soll Polen als Teil des Westens in einer anderen Liga spielen und die Region weit hinter sich lassen oder soll Polen als größtes Land Ostmitteleuropas eine Führerschaft in der Region beanspruchen? 

Die formal in einer gemeinsamen europäischen Parteienfamilie sich befindlichen Parteien Fidesz und PO mussten sich in dieser Lage fast zwangsläufig voneinander entfremden. Üblicherweise kann eine tiefe Freundschaft zwar auch unterschiedliche Politikansätze überleben. Tatsächlich gelten die polnisch-ungarischen Beziehungen, die jedes Jahres öffentlichkeitswirksam mit dem Tag der polnisch-ungarischen Freundschaft am 23. März gefeiert werden, als besonders gut. Eine derartige Stufe haben die Beziehungsgeflechte zwischen den Parteien PO und Fidesz aber niemals erreicht. Dies drückten führende Fidesz-Politiker in jener Zeit wie folgt aus: „Unser Kopf ist mit der PO, unser Herz mit der PiS.“

Diese Zweigleisigkeit beruht natürlich auch darauf, dass Fidesz und die Vorgänger der beiden polnischen Parteien derselben antikommunistischen bürgerlichen Mitte entstammen. Sie vereinte das Narrativ des „Ob“ bezüglich des Weges hin zu Demokratie, Freiheit, EU-Integration: Hinsichtlich des „Wie“ entluden sich aber spätestens seit Mitte der Nullerjahre deutliche Differenzen. Schließlich setzte die Zeit der Opposition für die PO auch eine Ereigniskette in Gang, die schlussendlich zum Austritt von Fidesz aus der Europäischen Volkspartei führte und ursächlich für die heutigen Konflikte zwischen Donald Tusk und Viktor Orbán sind. 

Die Verantwortlichen von PO waren immer weniger von der Politik von Fidesz überzeugt. Schon in den sich überlappenden Regierungszeiten von 2010 bis 2015 häuften sich dunkle Wolken. Zwar ging man in der Öffentlichkeit pfleglich miteinander um, war in derselben europäischen Parteienfamilie und jeweils an der Regierung. Doch brodelte es unter der Oberfläche gewaltig. Einer der Gründe für die Wahlniederlage von PO war die in den Augen der polnischen Wähler sich abzeichnende Überheblichkeit, Arroganz und Machtversessenheit. Der Abhörskandal des Jahres 2014, Privatgespräche führender polnischer PO-Vertreter wurden aufgezeichnet und der Öffentlichkeit zugespielt, sorgte für eine massive öffentliche Entrüstung. Hierbei war auch Ungarn Gegenstand dieser Privatmeinungsäußerungen. So soll Außenminister Sikorski angeblich verächtliche Aussagen über Viktor Orbán gemacht haben. So wurde offenbar in der damaligen politischen Elite Polens über Ungarn gedacht. Man legte wenig Wert darauf, sich mit den Südosteuropäern zu umgeben und sah sich lieber im edlen und noblen Club westeuropäischer Prominenz, wo man immer angespornt wurde. 

So gesehen mag kaum mehr überraschen, dass die PO immer stärker zu den größten Kritikern von Fidesz avancierte. Als zweitgrößte Gruppe innerhalb der EVP-Fraktion und mit ihrer guten Vernetzung hatten die PO-Politiker auch die Macht, den Brüsseler Spin entsprechend zu beeinflussen. Und dies taten sie auch gewaltig. Besuche und Begegnungen fanden kaum mehr statt, und die Fronten verhärteten sich. Als sich im März 2017 Donald Tusk anschickte, im Europäischen Rat wiedergewählt zu werden, stand Fidesz vor einem Spagat. Sollte dem amtierenden Ratsvorsitzenden die Wiederwahl verweigert werden? Bekanntlich stellte die PiS-Regierung Jacek Saryusz-Wolski als Gegenkandidaten auf, denn die Verweigerung der Unterstützung für den Landsmann Tusk in einem internationalen Forum hätte als Vaterlandsverrat gegolten. Ungarn stimmte für Tusk, der Kandidat der polnischen Regierung erhielt nur die Stimme aus Polen. Obzwar die Polen wussten, dass Saryusz-Wolski niemals auch nur ansatzweise eine reale Chance hatte, musste sie aus innenpolitischen Gründen einen Gegenentwurf präsentieren. Tusk einfach nur so durchzuwinken, hätte auch als Verrat am eigenen politischen Lager gegolten, dies galt es zu vermeiden. 

Doch schon kurz nach der Wiederwahl von Tusk deutete sich an, dass seine Rückkehr in die polnische Politik nicht gänzlich auszuschließen war. Diesen Schritt tat er dann im Juli 2021, als er den Vorsitz der Bürgerplattform an sich riss, um bei den Parlamentswahlen 2023 gegen die PiS-Regierung anzutreten. Zwar ist Donald Tusk in Polen weiterhin sehr populär, doch äußern die Polen immer wieder ihre Skepsis ob einer Rückkehr von Tusk in die polnische Politik. Wichtiger aber ist, dass Tusk als nicht wegzudenkender Player der polnischen Politik sich nie ganz von den dortigen Debatten lösen konnte und daher für viele ein zweifelhafter Ratspräsident (und EVP-Präsident) blieb. 

Wie stark diese Verwurzelung in den innenpolitischen Konflikten seines Heimatlandes die Bewegungen auf europäischer Ebene bestimmte, zeigt auch sein Wirken als Präsident der EVP. Nach Joseph Daul wurde Tusk im November 2019 auf dem EVP-Kongress zum neuen ersten Mann der Parteienformation gewählt. Er äußerte sich unzweifelhaft, wie er sich die Mitgliedschaft von Fidesz vorstellte: Am besten nämlich solle die Partei freiwillig gehen, andernfalls werde er den Ausschluss durchsetzen. Damit war das Tischtuch zerschnitten. Die alte Männerfreundschaft, die auch durch Ungarn erreichte Wiederwahl im Europäischen Rat, die gemeinsame Wahl von Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin – alles null und nichtig. Eher schmerzte es weite Teile der EVP und auch Tusk, dass die Personalie von der Leyen nur mit Unterstützung durch Fidesz und PiS durchgesetzt werden konnte, die Kandidatin hatte nämlich nur einen Vorsprung von neun Stimmen. Der damalige CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, des Polnischen mächtig, reiste nach Warschau und verhandelte mit Jaroslaw Kaczynski über dessen Unterstützung für von der Leyen. Die CDU hatte weniger Berührungsängste mit der PiS als viele in der EVP.

Im März 2021 wurde dann der Bruch vollzogen. Fidesz trat aus der EVP aus. Die Polen hatten hierin einen größeren Anteil, als die breite Öffentlichkeit wahrgenommen haben mag. Allen voran waren die Europaabgeordneten der Bürgerplattform, als zweitgrößte EVP-Delegation einflussstark, die wichtigsten Akteure in der Entfremdung der Fidesz von der EVP. Die Personalie Donald Tusk brachte den innerpolnischen Bruderkampf zwischen PiS und PO mitten in die europäische Arena. Seine Orientierung an linke Parteien hat nicht nur die PO in Polen, sondern auch die EVP weit nach links getrieben. Von hier war es nur noch ein kleiner Schritt von Donald Tusk, sich auf die Seite der Linksparteien in Ungarn zu schlagen und dort Wahlkampf gegen Viktor Orbán zu machen. Die ungarischen Wähler sehen jedenfalls solche Einmischungsversuche mit Unbehagen und werden bei den Parlamentswahlen am 3. April 2022 ihr Urteil fällen.